Header-Grafik
Textil- und Bekleidungsindustrie: Der „übersehene“ Strukturwandel
Die Textil- und Bekleidungsindustrie war lange in vielen Regionen von NRW einer der größten Arbeitgeber. Durch den zunehmenden Einsatz von Maschinen und die Abwanderung der Produktion sind viele Arbeitsplätze verloren gegangen. Die Spezialisierung der Branche hat vielen Unternehmen jedoch geholfen, den Strukturwandel zu bestehen.
Inhalt
Wie wichtig ist die Textil- und Bekleidungsindustrie in NRW?
NS-Zeit und Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg
1970er-Jahre: Die Industrie in der Krise
Spezialisierung: Die Textil- und Bekleidungsindustrie heute
Harte Branche, Frauenbranche?
Problematischer Trend „Fast Fashion“
Wie wichtig ist die Textil- und Bekleidungsindustrie in NRW?
Die Textil- und Bekleidungsindustrie hat eine lange Tradition in NRW. An vielen Orten spielt sie seit Jahrhunderten eine bedeutende Rolle. In Westfalen entwickelte sich das Textilgewerbe schon seit dem 16. Jahrhundert in Gebieten, in denen Hanf und Flachs angebaut und zu Leinen verarbeitet wurden. Bis in die 1920er-Jahre entstand an der niederländisch-westfälischen Grenze eines der wichtigsten Zentren der Textilproduktion in Europa. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Textil- und Bekleidungsindustrie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Nordrhein-Westfalen.
Was unterscheidet Textil- und Bekleidungsindustrie?
Textil- und Bekleidungsindustrie sind eng miteinander verbunden, aber zwei verschiedene Industriezweige. Die Bekleidungsindustrie produziert Mode, die Textilindustrie die hierfür benötigten Stoffe. Die Textilindustrie stellt aber auch Stoffe für Möbel Teppiche oder Segel her sowie heute zunehmend sogenannte technische Textilien, die unter anderem in Flugzeugen, Booten oder Dächern verbaut werden.
Der „übersehene Strukturwandel“
Wenn vom Strukturwandel in NRW die Rede ist, geht es meist um Bergbau und Stahlindustrie. Doch die Textil- und Bekleidungsindustrie hat ebenfalls einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Diese Entwicklung ist in der Öffentlichkeit weniger präsent, obwohl es sich auch hierbei um eine bedeutende Branche handelt. Im Jahr 1970 arbeiteten in NRW rund 260.000 Menschen in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Zum Vergleich: In der Stahlindustrie lag der Höhepunkt im Jahr 1957 bei rund 330.000 Beschäftigten.
Die größere Bekanntheit des Strukturwandels in der Kohle- und Stahlindustrie, liegt unter anderem daran, dass es in diesem Bereich vor allem große Betriebe gab. Wenn die Schließung einer Zeche angekündigt wurde, verloren sehr viele Menschen gleichzeitig ihre Arbeit. In der Textil- und Bekleidungsindustrie hingegen waren die Betriebe kleiner und die Gewerkschaften weniger stark. Die Schließungen waren zudem weniger regional konzentriert, sodass sich Proteste nicht so stark formierten und dadurch weniger Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen.
NS-Zeit und Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Zeit des Nationalsozialismus bedeutete einen Bruch insbesondere für die Bekleidungsindustrie. Die Verfolgung und Zwangsenteignung von Jüdinnen und Juden durch das Nazi-Regime führten dazu, dass die Branche viele bedeutende Persönlichkeiten verlor. Außerdem mussten zahlreiche Unternehmen ihre Produktion einstellen, stattdessen wurde die Rüstungsindustrie ausgebaut. Die verbleibenden Unternehmen stellten vor allem Kleidung für den Staat und die Wehrmacht her.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Textil- und Bekleidungsindustrie jedoch wieder zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Bundesrepublik Deutschland – und für Nordrhein-Westfalen.
Dazu trug auch die Teilung Deutschlands bei. Denn dadurch wurde der Ausbau der Kleidungsindustrie im Westen nötig. Große Unternehmen sammelten sich beispielsweise im Ruhrgebiet oder in der Region um Münster an. In Mönchengladbach arbeitete 1974 rund ein Viertel der industriell Beschäftigten in der Bekleidungsindustrie. Darum erhielt Mönchengladbach auch den Beinamen „rheinisches Manchester“. In Münster lag der Anteil sogar bei über 30 Prozent.
Der erfolgreiche Aufbau der Bekleidungsindustrie im Westen in der Nachkriegszeit wurde insbesondere dadurch möglich, dass zahlreiche Geflüchtete und Vertriebene Arbeitsplätze suchten. Unter ihnen waren viele, die Expertise mitbrachten, weil sie bereits zuvor in der Branche tätig gewesen waren. Auch viele Frauen begannen, für Textil- und Bekleidungsunternehmen zu arbeiten.
Gleichzeitig erholte sich Deutschland langsam von den Folgen des Krieges. In der Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders stieg die Lust auf Konsum, auf die sogenannte „Fresswelle“ folgte der „Kleidungshunger“.
Mit dem steigenden Bedarf an neuer Kleidung ging auch die Rationalisierung der Produktion einher. Die Produktion von Bekleidung wurde zur Fließbandarbeit, die Arbeitsbedingungen immer härter. Durch Arbeitskämpfe konnten die Beschäftigten zwar Verbesserungen erreichen, die Einkommen in der Branche blieben dennoch niedrig. Bereits Ende der 1950er-Jahre begann der Niedergang der Bekleidungsindustrie. Bekleidung wurde erstmals weniger nachgefragt. Es kam zu Kurzarbeit und Entlassungen, immer mehr Beschäftigte wanderten in andere Branchen ab. Der Strukturwandel in der Bekleidungsindustrie war nicht mehr aufzuhalten. Die Textilindustrie hatte bereits in den Jahren des Wiederaufbaus an Bedeutung verloren. Sie war hinter dem Wachstum anderer Branchen zurückgeblieben.
1970er-Jahre: Die Industrie in der Krise
Dem Aufstieg in der Nachkriegszeit folge eine tiefe Krise, ausgelöst durch die zunehmende Globalisierung, die Technisierung der Prozesse sowie der damit einhergehenden Rationalisierung. Die Anzahl der Betriebe und der Beschäftigten in der Textil- und Bekleidungsindustrie schrumpfte enorm.
Im Bereich der Bekleidungsindustrie gab es im Jahr 1970 noch 1.733 größere Betriebe in Nordrhein-Westfalen, im Jahr 2020 waren es nur noch 50. In der Textilindustrie sank die Zahl von 1.152 auf 189 im gleichen Zeitraum. Die Zahl der Beschäftigten brach ebenfalls ein und damit die Bedeutung der Branche für den Arbeitsmarkt. Im Jahr 1970 arbeiteten insgesamt 260.287 Personen in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Im Jahr 2020 waren es nur noch 22.642.
Befeuert wurde die Krise unter anderem durch die Internationalisierung der Industrie. Einerseits wurde die Produktion zunehmend in Niedriglohnländer verlegt, andererseits stieg der Konkurrenzdruck durch Produkte, die von dort importiert wurden.
Möglich wurde dies auch durch die immer stärkere Liberalisierung des Handels durch die Politik. Lange Zeit galten in vielen Industrieländern, darunter Deutschland, Begrenzungen für den Import von Textilien, insbesondere aus Niedriglohnländern. Im Jahr 2005 liefen diese Regeln aus.
Mehr zur historischen Entwicklung
Interaktive Karte: Zeitreise durch den Strukturwandel in der Textil- und Bekleidungsindustrie.
Dissertation über die Textil- und Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet.
Historische Entwicklung der Textilindustrie in Westfalen präsentiert Online-Portal „Westfälische Geschichte“
Spezialisierung: Textil- und Bekleidungsindustrie in NRW heute
Trotz des Strukturwandels ist die Textil- und Bekleidungsindustrie weiterhin umsatzstark – auch im europäischen Vergleich. Sie ist die zweitgrößte Konsumgüterbranche in Deutschland und exportiert gleichzeitig mehr als 40 Prozent ihrer Produktion auf den internationalen Markt. Damit belegt Deutschland nach China und Indien den dritten Platz, gemessen am Wert der exportierten Textilien.
Die noch in NRW verbliebenen Unternehmen setzen immer stärker auf Spezialisierung, um den wirtschaftlichen Anforderungen gewachsen zu bleiben. Die Textil- und Bekleidungsindustrie besteht hierzulande hauptsächlich aus kleineren und mittelständischen Unternehmen, die sich insbesondere auf die Produktion von technischen Textilien spezialisiert haben. Sie hat sich zu einer High-Tech-Branche entwickelt, die in Bereichen tätig ist, in denen man Textilien eher nicht vermutet. Ihre Produkte sind zum Beispiel Faserwerkstoffe für Auto- und Bauindustrie oder textile Systeme für Windkraftanlagen. Auch High-Tech-Bekleidung gehört dazu. Ein Vorteil für die Textilunternehmen in NRW ist, dass sie in der Region Möglichkeiten zur Kooperation finden – zum Beispiel mit Forschungsinstituten oder Unternehmen aus dem Bereich Maschinenbau.
Die Branche steht auch heute immer wieder vor Herausforderungen. Dazu zählt zum Beispiel der sinkende Absatz bei Bekleidung oder der Wunsch der Kundinnen und Kunden nach stärker individualisierter Mode. Nicht zuletzt die Einschränkungen für den Einzelhandel durch die Corona-Pandemie haben den Unternehmen Probleme bereitet.
Um zu bestehen, setzt die Branche nicht nur auf Spezialisierung. Viele Unternehmen sind auch vertikal aufgestellt. Das bedeutet, dass sie von der Herstellung bis zum Handel alle Schritte der Lieferkette kontrollieren. Das hilft unter anderem, Kosten zu sparen.
Interview mit Rolf Königs
Rolf Königs, Geschäftsführer eines großen Textilunternhemens aus Mönchengladbach, blickt auf die letzten Jahrzehnte, in denen sich in der Textilbranche in Deutschland und besonders in NRW enorme Veränderungen aufgrund des Strukturwandels vollzogen haben. Ein spannender Überlick über die Gründe des Strukturwandels und über die Zukunft der Branche.
Film: © Stiftung Haus der Geschichte
Mehr über die heutige Lage der Branche
Aktuelle Informationen über den Zustand der Textil- und Bekleidungsindustrie in Nordrhein-Westfalen finden Sie auf der Seite des Ministeriums für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen oder auf der Seite von duesseldorf-wirtschaft.de.
Auch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz bietet eine Branchenskizze.
Harte Branche, Frauenbranche?
In der Textil- und Bekleidungsindustrie fanden nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere Frauen einen Arbeitsplatz, zum Beispiel als Näherinnen oder Zuschneiderinnen.
Denn die Folgen des Krieges führten in dieser Zeit zu Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Unmittelbar nach Kriegsende mussten alle, die konnten, zur Existenzsicherung beitragen. Weil viele Männer gefallen oder in Kriegsgefangenschaft waren, arbeiteten Frauen in allen Bereichen der Wirtschaft. Einerseits stieg der Anteil der berufstätigen Frauen stark an – andererseits blieben alte Rollenvorstellungen bestehen. Demnach sollten sich Frauen um Haushalt und Familie kümmern. Berufstätige Frauen verdienten jedoch weniger als Männer und es mangelte an Aufstiegsmöglichkeiten.
Gleichzeitig waren die Arbeitsbedingungen in der Textil- und Bekleidungsindustrie sehr hart. Es wurde an Fließbändern gearbeitet, die Produktionsabläufe wurden in immer kleinere Einzelschritte unterteilt und beschleunigt. Es wurde vorgegeben, in welcher Zeit die einzelnen Schritte zu erledigen waren. In den Betrieben war es oft eng, da sie stetig expandierten und immer mehr Beschäftigte in den Produktionsräumen unterbringen mussten.
Die enge zeitliche Taktung, der Lärm der Maschinen, die Enge und die stetige Angst, die Produktionsvorgaben nicht zu erfüllen, führten zu Stress, körperlichen Verschleißerscheinungen und einem hohen Krankenstand bei den Arbeiterinnen. Hinzu kam, dass die Bezahlung in der Branche sehr schlecht war.
Diese Umstände führten dazu, dass sich Gewerkschaften formierten, um für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. In diesen Gewerkschaften waren besonders viele Frauen Mitglieder und nahmen herausragende Rollen ein, wie zum Beispiel Gerti Jung, Lotte Neumann oder Marianne Jedamczik. Beispielhaft für das Engagement der Frauen und ihren Kampf für bessere Arbeitsbedingungen ist der Streik von 1961 in Gelsenkirchen. Mit dem Streik machten die Frauen erstens erstmals auf ihre hohe Arbeitsbelastung in der Bekleidungs- und Textilbranche aufmerksam und erreichten zweitens mehr Lohn und eine kürzere Regelarbeitszeit. Dennoch blieben die Gehälter in der Branche niedrig. Sie reichten häufig nicht für den Aufbau einer unabhängigen Existenz.
Weiterführende Informationen
Mehr über die Erwerbstätigkeit von Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe.
Persönliche Geschichten von Frauen in der Textil- und Bekleidungsbranche erzählt frauen/ruhr/geschichte.
Mehr Informationen zur Entwicklung in der Bekleidungsindustrie unter besonderer Berücksichtigung von Frauenarbeitsplätzen bietet ebenfalls der Landschaftsverband Westfalen-Lippe.
Problematischer Trend „Fast Fashion“
Eine aktuelle Entwicklung in der Branche ist „Fast Fashion“: Immer häufiger werden neue Modetrends ausgerufen und neue Kollektionen produziert. Oftmals handelt es sich um besonders günstige Kleidung, die schnelle Konsumwünsche befriedigen soll. Insbesondere vor dem Hintergrund der Klimakrise ist dies problematisch. Denn die Herstellung von Kleidung ist mit ökologischen und sozialen Auswirkungen verbunden.
Der Anbau und die Produktion von Rohfasern sowie die Veredelung von Textilien sind oft umweltschädlich. Unter anderem werden beim Anbau von Baumwolle Pestizide sowie Düngemittel eingesetzt und es wird enorm viel Wasser benötigt. Für die Produktion von Chemiefasern wird Erdöl verbraucht. Bei der Textilveredelung geht es darum, die Rohtextilien zu färben oder sie mit bestimmten Eigenschaften auszustatten. Dabei werden oft umwelt- und gesundheitsschädliche Chemikalien eingesetzt, die ins Abwasser gelangen und dieses verschmutzen können.
Aber auch unter sozialen Gesichtspunkten ist „Fast Fashion“ ein Problem. Viele der Kleidungsstücke werden in Niedriglohnländern wie Bangladesch oder Pakistan hergestellt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden oft ausgebeutet und sind einem hohen Gesundheitsrisiko ausgesetzt.
Fast Fashion: Was kann ich tun?
Wer vermeiden will, beim Kauf von Kleidung zu Umwelt- oder sozialen Problemen beizutragen, kann die Einkaufstipps des Umweltbundesamtes beachten.
Mehr über „Fast Fashion“
Mehr über das Problem „Fast Fashion“ erfahren Sie auf der Internetseite des Bundesumweltministeriums.
Detaillierte Infos über den Herstellungsprozess von Textilien und die Auswirkungen auf die Umwelt erhalten Sie beim Umweltbundesamt.