Blick in die Forschung: Frau Dr. Rhein-Fischer, sind die Menschenrechte in Gefahr?
Die Juristin Dr. Paula Rhein-Fischer forscht an der Uni Köln zu Grund- und Menschenrechten. Sie sagt: Der notwendige Schutz zukünftiger Generationen verändert, wie wir über Menschenrechte denken und wie wir sie schützen. Warum die Forschung dafür wichtig ist – und (fast) egal, was Du studierst, wenn auch Du zu Menschenrechten forschen willst.
Frau Dr. Rhein-Fischer, welche Menschenrechts-Fragen beschäftigen Sie derzeit am meisten?
Aktuell beschäftige ich mich vor allem mit dem Verhältnis von Recht und Zeit. Darunter fällt zum Beispiel die Frage, wie wir zeitliche Ressourcen in der Gesellschaft fairer verteilen können. Eine alleinerziehende Mutter etwa hat deutlich weniger freie Zeit zur Verfügung als der Durchschnitt der Bevölkerung. Es ist sehr spannend, hierüber als ein Problem der Grund- und Menschenrechte nachzudenken.
Ein anderes Beispiel ist der Umgang des Rechts mit der Erinnerung an die Geschichte. Das betrifft in Deutschland vor allem unser Erinnern an den Holocaust. Indem wir das Leugnen, Billigen oder Verharmlosen des Holocausts als eine Form der Volksverhetzung unter Strafe stellen, unterstützt das Recht eine bestimmte Form der Erinnerung, der zu Grunde liegt, dass der Holocaust nie wiederholt werden darf. Die Vorschrift soll die Menschenwürde der Opfer und ihrer Nachfahren, aber auch den öffentlichen Frieden und wohl auch unsere Demokratie schützen. Dieser besondere rechtliche Schutz der Erinnerung an den Holocaust spiegelt die überwiegend gesellschaftlich geteilte Vorstellung wider, dass der Holocaust einzigartig ist.
Aber es ist gleichzeitig nicht leicht zu begründen, warum wir diesen rechtlichen Erinnerungsschutz den Opfern anderer Genozide vorenthalten, wenn wir Opfer nicht hierarchisieren möchten. Gerade europäisches Recht muss zudem vor Augen haben, dass andere Staaten bei dem Blick auf die Geschichte andere Akzente als Deutschland setzen. Eine generelle Ausweitung des rechtlichen Erinnerungsschutzes hat wiederum den Nachteil, dass der Staat immer weiter in den Diskurs über die Geschichte hineinregiert, der eigentlich Aufgabe der Historiker und der Gesellschaft ist. Da stehen wir vor einem Dilemma.
Ein drittes interessantes Beispiel aus den Beziehungen des Rechts zur Dimension Zeit ist der Klimaschutz. Hier geht es darum, wie junge Menschen von heute und auch die künftigen Generationen vor zu starken Beeinträchtigungen in der Zukunft geschützt werden können. Generationengerechtigkeit – auch in Bereichen der Staatsschulden und Sozialversicherungssysteme – ist aus meiner Sicht eine der wichtigsten aktuellen menschenrechtlichen Fragen. Wir brauchen hier eine Betrachtung von Menschenrechten „auf dem Zeitstrahl“.
Was meinen Sie genau mit „Betrachtung auf dem Zeitstrahl“?
Wir haben bestimmte zeitliche Komponenten bei Grund- und Menschenrechten schon immer mitgedacht. Auch Grund- und Menschenrechte müssen etwa wandlungsfähig in der Zeit sein. Ein anderes Beispiel: Manche Gesetze entfalten ihre Wirkungen auch für die Vergangenheit und greifen damit besonders stark in Menschenrechte ein.
Neu ist seit einer wichtigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz aus dem Jahr 2021, dass wir heutige Einschränkungen von Menschenrechten ins Verhältnis setzen müssen mit den Einschränkungen, die ansonsten in der Zukunft notwendig werden. Das meine ich mit Zeitstrahl. Wir wägen also zum Beispiel die Folgen heutiger staatlicher Vorgaben zur Einsparung von CO2-Emissionen gegen die zukünftigen Folgen ab, die es hätte, wenn wir ohne große Einschränkungen weiterlebten wie bisher und die notwendigen Einsparungen auf die Zukunft verschöben.
Diese Denkweise verändert unseren Umgang mit Menschenrechten und den Spielraum demokratischer Entscheidungen. Der Gesetzgeber muss nun stärker als bisher auch an die längerfristige Zukunft denken.
Was hat das Bundesverfassungsgericht dazu konkret entschieden?
Das Bundesverfassungsgericht hatte über die Verfassungsmäßigkeit des damaligen Klimaschutzgesetzes zu entscheiden. Dieses sah insbesondere keine näheren Vorgaben dazu vor, wie in Deutschland die CO2-Emissionen von 2030 an so weit reduziert werden sollen, dass die Erderwärmung möglichst unter 1,5°C und jedenfalls deutlich unter 2°C bleibt. Deutschland hat sich mit dem Klimaabkommen von Paris dazu verpflichtet, seinen Beitrag zu diesen Zielen zu leisten.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Abwägung auf dem Zeitstrahl festgestellt, dass die heute jungen Menschen nach dem damaligen Klimaschutzgesetz in der Zukunft mit so tiefen Einschnitten in ihre Grundrechte hätten rechnen müssen, dass diese Einschnitte unverhältnismäßig gewesen wären. Deswegen hat es das damalige Klimaschutzgesetz als verfassungswidrig eingestuft. Der Gesetzgeber hat das Klimaschutzgesetz dann sehr schnell nachgebessert.
Die Gerichtsentscheidung hat auch international viel Aufsehen erregt. Ähnliche Entscheidungen gibt es auch von den Verfassungsgerichten anderer Länder und sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Klimaseniorinnen-Fall jüngst in diesem Sinne entschieden. Aber es gibt auch noch Forschungsbedarf, zum Beispiel dazu, wie weit die Berücksichtigung zukünftiger Einschränkungen reicht und wie damit verbundene Probleme – zum Beispiel, dass wir die Zukunft immer nur prognostizieren können – gelöst werden können.
Das Bundesverfassungsgericht hat hier also die Grundrechte gestärkt. Anderseits entsteht gerade der Eindruck, dass Menschenrechte von vielen Seiten unter Druck geraten. Sehen Sie die Menschenrechte in Gefahr?
Innerhalb vieler westlicher Gesellschaften scheinen mir Menschenrechte bislang nicht systematisch in Gefahr. Wir haben hier überwiegend eine funktionierende Gewaltenteilung und insbesondere unabhängige Gerichte. Wir sehen sogar manche Trends in Richtung einer gewissen „Verrechtlichung“ der Politik, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz zeigt.
Aber aufstrebender Rechtsextremismus und Populismus überall in Europa und der Welt zeigen, dass wir diese freiheitliche Ordnung verteidigen müssen, und dass das – nehmen wir die weitgehende Abschaffung des Abtreibungsrechts in Polen unter der PiS-Regierung – nicht immer gelingt. Ich habe auch große Sorge davor, dass der zukünftige US-Präsident Trump die Menschenrechte geflüchteter oder eingewanderter Menschen massiv missachten könnte. Ähnliche Gefahren würden drohen, wenn die AfD in Deutschland an die Macht käme.
Der Staat hat zudem auch die Pflicht, Menschen vor anderen Menschen zu schützen. Ich denke hier etwa an Hass und Hetze im digitalen Raum und an den um sich greifenden Antisemitismus. Der Staat muss hier das Recht der analogen Welt in die digitale übersetzen und es auch besser durchsetzen. Dazu wird im Moment viel geforscht.
Global gibt es hingegen viele Regionen, in denen Menschenrechte systematisch verletzt werden. Das reicht von Repressalien autoritärer Regierungen gegenüber Regierungskritikern bis hin zu den Menschenrechtsverletzungen in den gegenwärtigen Kriegen. Die gezielten russischen Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine verletzen nicht nur die Rechte der Ukrainer. Zuverlässige Quellen berichten, dass jeden Tag rund 1.000 russische Soldaten fallen; die Menschenleben seiner eigenen Bürger zählen für den Kreml also offenbar nicht. Aber auch beim aktuellen Nahostkrieg zwischen der Hamas, der Hisbollah und Israel werden Menschenrechte an vielen Stellen verletzt; besonders die Menschenrechtslage der Palästinenser in Gaza ist desolat.
Gleichzeitig muss man vorsichtig damit sein, aus dem Westen heraus andere Länder mit dem Argument der Menschenrechte immer nur zu kritisieren, weil wir hiermit einen grundlegenden Konflikt verschärfen. In westlichen Gesellschaften werden Menschenrechte überwiegend universell verstanden. Menschen haben diese Rechte, weil sie Menschen sind. Sie bekommen diese Rechte nicht erst gewährt und niemand kann sie ihnen wegnehmen.
Allerdings haben wir die Menschenrechte auch mit unseren kulturellen Wertevorstellungen aufgeladen und sie mit dem Gedanken des Fortschritts verknüpft. Stimmen aus dem globalen Süden werfen den westlichen Gesellschaften deshalb vor, dass sie mit den Menschenrechten wieder Kolonialisierungspolitik betreiben und diese auch dafür nutzen, bestehende Machtstrukturen auf der Welt aufrechtzuerhalten. Diese Positionen sind schwer zu vereinbaren und mir scheint, beide haben ihre Berechtigung. Auch das ist ein Thema, zu dem viel geforscht wird und auch in Zukunft geforscht werden muss.
Würden Sie jungen Menschen empfehlen, ebenfalls zu Menschenrechten zu forschen, und aus dem Blickwinkel welcher anderen Disziplinen ist das möglich?
Das empfehle ich auf jeden Fall. Menschenrechte sind ein unheimlich spannendes Feld, das in fast alle wissenschaftlichen Disziplinen ausstrahlt und umgekehrt erheblich auf andere Disziplinen angewiesen ist. Viele technische, naturwissenschaftliche und medizinische Innovationen greifen tief in unser Zusammenleben ein und wirken sich auf unsere Grund- und Menschenrechte aus – denken wir an künstliche Intelligenz, lebensverlängernde Maßnahmen oder Genomchirurgie, die unser Erbgut verändert.
Die Philosophie wiederum liefert für die Menschenrechte und ihre Ausgestaltung wichtige Begründungsansätze: Welche Kriterien sind zum Beispiel ethisch vertretbar, wenn ein Krankenhaus im Falle der Kapazitätsüberlastung seine Patienten auswählen muss, weil es nicht alle gleichzeitig behandeln kann? Die Geschichtswissenschaft erforscht zum Beispiel historische Zusammenhänge bei der Entwicklung der Menschenrechte, etwa inwiefern das Grundgesetz auch eine weibliche Handschrift trägt.
Die Soziologie fragt neben vielem anderen nach den Gründen für menschliches Verhalten, das Menschenrechte beeinträchtigt, zum Beispiel warum Menschen antisemitische und rassistische Positionen teilen. Die Politologie sucht unter anderem nach den politischen Strukturen hinter dem Abschluss internationaler Menschenrechtstexte, etwa dem 2021 vom UN-Menschenrechtsrat anerkannten Recht auf eine gesunde Umwelt. Auch vor Gerichten spielt die Wissenschaft anderer Disziplinen eine große Rolle, wie etwa der Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts zeigt, in dem das Gericht ausführlich auf die Klimawandelforschung eingeht.
Es gibt also neben der Rechtswissenschaft viele weitere Disziplinen, in denen wir auch künftig Menschen brauchen, die zum Schutz der Grund- und Menschenrechte forschen.