„Lützerath bleibt!“: Ist der Protest gegen die Räumung des Braunkohledorfs legitim?
Foto von: Ende Gelände / Quelle: https://www.flickr.com/photos/133937251@N05/52479710244 / Lizenz: CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)
Kurzfassung
Deutschland blickt auf Lützerath: Die Räumung des Protestdorfs an der Abbruchkante des Braunkohle-Tagebaus Garzweiler läuft. Über Tausend Ordnungskräfte aus dem gesamten Bundesgebiet sind angerückt. Inzwischen ist die Polizei bis in den Ortskern vorgedrungen – hat Menschenketten durchbrochen, Barrikaden entfernt, erste Hallen geräumt. Doch die Protestierenden geben den symbolträchtigen Ort nicht widerstandslos frei: Sie verschanzen sich in Gebäuden, flüchten auf meterhohe Masten, ketten sich an Beton-Konstruktionen fest. Insgesamt verläuft der Einsatz bislang weitestgehend gewaltfrei, vereinzelt berichtet die Polizei allerdings bereits von fliegenden Steinen, Feuerwerkskörpern, Farbbeuteln und auch Molotow-Cocktails.
Das letzte Kapitel der Kohleverstromung in NRW
Seit dem 23. Dezember ist der Aufenthalt in Lützerath untersagt – das hatte der Kreis Heinsberg per Allgemeinverfügung durchgesetzt. Die Begründung: Der Energiekonzern RWE hat sämtliche Liegenschaften des Ortes längst erworben. Ein Eilverfahren gegen die Räumung des Protestdorfes war Anfang Januar vor dem NRW-Oberverwaltungsgericht gescheitert. Seit dem 10. Januar ist die Polizei somit befugt, das Dorf zu räumen. Um das zu verhindern, hat die Klimabewegung den Weiler zum Hotspot erklärt – das Ziel: „Lützerath bleibt!” Doch die schwarz-grüne Landesregierung steht nahezu geschlossen hinter dem Abriss, der „energiewirtschaftlich und energiepolitisch notwendig” sei. Auf dieser Grundlage hatten Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und NRW-Klimaministerin Mona Neubaur (beide Grüne) im Oktober 2022 den sogenannten „Kohlekompromiss” mit RWE besiegelt: Der Ausstieg aus der Braunkohle wird auf das Jahr 2030 vorgezogen. 280 Millionen Tonnen Kohle bleiben damit unter der Erde und die fünf Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Unterwestrich, Oberwestrich und Berverath bleiben erhalten – einzig das von seinen Bewohner:innen verlassene Lützerath muss noch weichen.
Doch die öffentliche Kritik reißt nicht ab. Zuletzt hatten auch Vertreter:innen der katholischen und evangelischen Kirchen in NRW sowie die Initiative „Scientists for Future” an die Landesregierung appelliert, die Räumung zu unterbrechen. Als Anti-Kohle-Partei stehen vor allem die Grünen im Kreuzfeuer ihrer Wählerschaft. Zum Start des Polizeieinsatzes luden Aktivist:innen kiloweise Braunkohle vor dem Düsseldorfer Parteibüro ab. In Aachen schlugen Unbekannte Löcher in das Schaufenster der Grünen-Geschäftsstelle und hinterließen das Graffiti „Grüße aus Lützi”. Am ersten Tag der Räumung gesteht die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag NRW, Wibke Brems, in einer Pressemitteilung: „Der heutige Tag ist kein leichter für uns Grüne und alle für den Klimaschutz engagierten Menschen.” Doch sie verspricht: „Wir haben das letzte Kapitel der Kohleverstromung in NRW geschrieben (…).”
Ist der Protest gegen die Räumung von Lützerath legitim?
Acht Perspektiven
Die Perspektive in 30 Sekunden
Die Ärztin und Klimaaktivistin Lakshmi Thevasagayam hält es für ihre Pflicht, die Kohle unter Lützerath zu schützen – auch, wenn die „anscheinende »Rechtslage«“ das verbiete: „Nötig ist, dass sie im Boden bleibt, damit die von der Regierung gesteckten Klimaziele eingehalten werden“, konstatiert Thevasagayam in der linken Tageszeitung ND (ehemals NEUES DEUTSCHLAND).
Das Rheinische Braunkohlerevier sei die größte CO2-Quelle Europas. Vor Ort in Lützerath spüre sie selbst jeden Tag, wie der Tagebau die Umwelt zerstört: „Vom Feinstaub haben wir einen rauen Rachen. Mit Baggergeräuschen und Flutlicht schlafen wir ein und wachen wieder auf.“ Diese „Ungerechtigkeit und Ignoranz“ sei kaum auszuhalten. Laut Thevasagayam sind sie und ihre Mitstreiter:innen nicht mehr bereit, sich einreden zu lassen, „dass es ausreichen soll, nur kalt zu duschen, vegan zu essen und nie mehr Auto zu fahren, während Dörfer abgebaggert werden“. Und sie seien bereit, sich dagegenzustellen – in der „Hoffnung auf eine andere Zukunft als die Klimahölle“.
Thevasagayam argumentiert weiter, dass der Paragraf 48 des Kohleausstiegsgesetzes, auf dem die Räumung fußt, rechtswidrig sei. Der Passus legt eine „energiepolitische und energiewirtschaftliche Notwendigkeit“ für den Braunkohletagebau Garzweiler fest – die jedoch von der Klimaschutzbewegung angezweifelt wird. 2020 legte die Gemeinschaft „Menschenrecht vor Bergrecht“ gegen den Paragrafen eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein, scheiterte aber an formalen Hürden.
Anmerkungen der Redaktion
Lakshmi Thevasagayam ist Ärztin sowie Klima- und Gesundheitsaktivistin. Sie engagiert sich in der Antikohlebewegung im Rheinland und ist Pressesprecherin der Initiative „Lützerath lebt!“. Thevasagayam ist Autorin bei der Tageszeitung ND. Dort gehört sie zu dem Team der Klimakolumne „Heiße Zeiten“.
ND (ehemals NEUES DEUTSCHLAND) ist eine überregionale Tageszeitung, die einen „Journalismus von links“ vertreten möchte. Im zweiten Quartal 2022 lag die verkaufte Auflage des NEUEN DEUTSCHLAND bei rund 16.000 Exemplaren. Zu DDR-Zeiten war sie das publizistische Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und gehörte nach der Wende der Partei PDS. Deren Nachfolgepartei DIE LINKE besaß bis Ende 2021 noch 50 Prozent der Anteile an der Zeitung. Seit 2022 wird die Zeitung von einer Genossenschaft herausgegeben und gehört den Leser:innen und Mitarbeiter:innen aus Redaktion und Verlag. ND beschreibt sich selbst als Tageszeitung, „die mit linkem Ideengut über den Tellerrand des journalistischen Alltags hinausdenkt“. Die Konrad-Adenauer-Stiftung bescheinigt der Zeitung eine einseitige Berichterstattung: Marktwirtschaft sei „Kapitalismus“, westliche Außenpolitik „Imperialismus“. Außerdem sei die Zeitung DDR-nostalgisch. So sei ND bis zur Wende 1989 „Organ des Zentralkomitees“ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gewesen, berichtet der SPIEGEL. ND selbst bezeichnet ihr DDR-Format als „trockenes Partei- und Staatsblatt, das sich nach 1990 im kapitalistischen Deutschland neu erfinden musste“.
„Protest ist legitim – wenn er friedlich ist“
Deutschlandfunk (DLF), 03.01.2023 - Felicitas Boeselager
Zum Originalartikel
Die Perspektive in 30 Sekunden
Die NRW-Landeskorrespondentin Felicitas Boeselager findet es richtig, Lützerath nicht ohne Widerstand aufzugeben. Zwar habe die Klimabewegung mit dem Kohleausstieg im Jahr 2030 schon viel erreicht. Doch gerade das beweise, dass „ein Protest gegen die Klimapolitik der Landes- und Bundesregierung gerechtfertigt ist“, kommentiert Boeselager im Hörfunkprogramm DEUTSCHLANDFUNK.
Kaum ein anderer Ort führe den tiefen Eingriff des Braunkohleabbaus in die Natur so deutlich vor Augen, wie der Krater eines Tagebaus. Gegen diese Zerstörung der Umwelt zu protestieren, hält Boeselager für vollkommen legitim – auch mit zivilem Ungehorsam. Sie argumentiert: „Auch wenn es gute realpolitische Argumente für den Kompromiss mit RWE gibt, ist es doch nicht von der Hand zu weisen, dass jede verbrannte Tonne Braunkohle angesichts der Klimaerwärmung eine Tonne zu viel ist.“
Dennoch müsse der Protest unbedingt friedlich bleiben. „Fliegende Steine, Böller, oder Flaschen gegen Polizeikräfte sorgen gerade nicht dafür, dass die Öffentlichkeit sich mit den Zielen der Klimabewegung auseinandersetzen wird“, mahnt die Kommentatorin. Auch befürchtet sie, dass ein hartes Durchgreifen der Polizei das Verhältnis zwischen Klimabewegung und Staat weiter erschüttern würde. „Sollte die Situation in Lützerath in den kommenden Wochen eskalieren, dann gibt es nur Verlierer.“
Anmerkungen der Redaktion
Felicitas Boeselager ist NRW-Landeskorrespondentin für die drei Programme des DEUTSCHLANDRADIOs. Die gebürtige Rheinländerin studierte Geschichte und Literatur in München. Später absolvierte sie ein Volontariat beim DEUTSCHLANDFUNK und arbeitete als Redakteurin in der Abteilung „Hintergrund“. Von 2018 bis 2021 war sie für DEUTSCHLANDRADIO als Landeskorrespondentin in Bremen tätig.
Der DEUTSCHLANDFUNK ist 1962 als Teil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gegründet worden. Er ist eines der drei bundesweiten Hörfunkprogramme des DEUTSCHLANDRADIOS und hat einen Wortanteil von 80 Prozent. Das Programm beschäftigt sich besonders tagsüber mit tagesaktuellen Geschehnissen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. In den Abendstunden liegt der programmatische Schwerpunkt auf Kulturthemen wie Musik, Hörspielen, Lesungen und entsprechenden Berichten. Der DEUTSCHLANDFUNK sendet klassisch linear, jedoch betreibt er auch eine umfangreiche Audiothek und diverse Podcasts, wo Inhalte auch nicht-linear konsumiert werden können. Laut Mediaanalyse „ma Audio 2022 I“ erreicht der DEUTSCHLANDFUNK täglich rund 2,08 Millionen Zuhörer:innen.
„In allen Szenarien wird die Kohle unter Lützerath nicht benötigt“
Energiezukunft, 02.12.2022 - Manuel Grisard
Zum Originalartikel
Die Perspektive in 30 Sekunden
Der Abriss von Lützerath ist überflüssig, macht der Redakteur Manuel Grisard im Magazin ENERGIEZUKUNFT deutlich. Entgegen den Gutachten, auf deren Grundlage die Entscheidung der NRW-Landesregierung fußt, könne die Energiesicherheit auch ohne die Bodenschätze des Protestdorfes gesichert werden. Der Autor konstatiert: „In allen Szenarien wird die Kohle unter Lützerath nicht benötigt.“
Grisard argumentiert anhand einer Analyse der Energieberatung „Aurora Energy Research“. Demnach kann der Braunkohleertrag aus dem Rheinischen Revier den Bedarf bis zum Jahr 2030 auch ohne Lützerath decken. Die Autor:innen der Studie gehen zudem davon aus, dass die Kohle in den kommenden Jahren ohnehin unrentabel werde – einerseits durch erneuerbare Energien, andererseits durch den kurzfristigen Aufbau weiterer Importstrukturen für Gas nach Deutschland.
Der in der Studie zugrunde gelegte Strombedarf beruhe auf den Berechnungen der Autor:innen. Laut Grisard veröffentlichte das Bundeswirtschaftsministerium zuletzt im November 2021 eine ausführliche Prognose zur Entwicklung des Strombedarfs bis zum Jahr 2030. Diese geht von einer Bandbreite von 645 bis 665 Terawattstunden (TWh) aus. Das Gutachten der Landesregierung basiere jedoch auf einem deutlich höheren Stromverbrauch von 750 TWh.
Anmerkungen der Redaktion
Manuel Grisard arbeitet als Redakteur für das Magazin ENERGIEZUKUNFT. Sein Fokus liegt auf Klimapolitik und Energiewende. Grisard studierte Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln und erlangte seinen Master of Arts im Fach „Governance“ an der Fernuniversität in Hagen. Seine Masterarbeit verfasste er über die Mobilisierungsstrukturen der Klimabewegung „Hambacher Wald".
ENERGIEZUKUNFT ist ein Magazin mit dem Schwerpunkt erneuerbare Energien und Energiewende. Es veröffentlicht regelmäßig Artikel auf der Website, erscheint jedoch auch jährlich als Printmagazin. ENERGIEZUKUNFT hat seinen Sitz in Berlin, Herausgeber ist der Ökostromanbieter NATURSTROM AG. Chefredakteurin ist die Journalistin Nicole Allé.
„Der vergebliche Kampf um Lützerath“
Rheinische Post (RP), 02.01.2023 - Julia Rathcke
Zum Originalartikel
Die Perspektive in 30 Sekunden
Die Lützerather Aktivist:innen sollten sich der Polizei nicht länger in den Weg stellen, meint die Redakteurin Julia Rathcke. Mit Blick auf die Rechtslage hält sie den Kampf um das Kohledorf ohnehin für vergeblich. In der Tageszeitung RHEINISCHE POST (RP) argumentiert die Kommentatorin: „Der Einsatz zum Schutz des Klimas ist wichtig, aber an anderer Stelle wohl hilfreicher.“
Die Protestaktion betrachtet sie vor allem als mediale Inszenierung: „Was die Aktivisten als Provokation zu verkaufen versuchen, ist vielmehr die Vorbereitung einer lange geplanten, rechtlich bestätigten Räumung“, so Rathcke. Gleichzeitig versuche die Klimaschutzbewegung, mit Bildern von brennenden Barrikaden „martialische Botschaften“ in die Welt zu senden. Doch was in Lützerath passiert, sei allenfalls ein symbolischer Widerstand, der nichts mehr ausrichten könne. „Der Protest wird verpuffen wie die brennenden Strohballen-Barrikaden“, prophezeit Rathcke.
Sie erinnert daran, dass die Räumung keineswegs überfallartig geschehe – zumal sie nun mal notwendig sei, und zwar auch aus Sicht der schwarz-grünen Landesregierung. „Davon darf man politisch grundsätzlich enttäuscht sein, das Abbaggern des Geisterdorfes und das Verbrennen der Kohle schlicht für nicht notwendig zu erklären, ist inmitten einer Energiekrise aber ziemlich wohlfeil“, so die Autorin.
Anmerkungen der Redaktion
Julia Rathcke ist Redakteurin im Ressort Politik und Meinung der RHEINISCHEN POST (RP). Sie schreibt Analysen, Kommentare und Essays zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen. Seit Januar 2022 leitet sie zudem die Journalistenschule der RP. Für das Blatt hat sie Anfang 2016 die AfD-Berichterstattung übernommen. Dafür wurde Rathcke vom MEDIUM MAGAZIN im Jahr 2017 als „Beste Reporterin regional“ ausgezeichnet. Nach einem Wechsel zum REDAKTIONSNETZWERK DEUTSCHLAND (RND) ist sie seit Ende 2020 wieder zurück bei der RP. Rathcke hat in Essen Christliche Studien und Germanistik studiert und bei der KATHOLISCHEN NACHRICHTEN-AGENTUR (KNA) in Bonn und Berlin volontiert. Parallel dazu hat sie die journalistische Ausbildung an der Katholischen Journalistenschule ifp in München absolviert.
Die RHEINISCHE POST (RP) ist eine regionale Tageszeitung, die zur „Rheinische Post Mediengruppe“ gehört. Der Schwerpunkt der Berichterstattung liegt auf Nordrhein-Westfalen. Die Zeitung wurde 1946 gegründet und hat ihren Hauptsitz in Düsseldorf. Chefredakteur ist Moritz Döbler. Laut einem Ranking von KRESS.DE war die RHEINISCHE POST die zweitmeist zitierte Regionalzeitung Deutschlands. Die verkaufte Auflage lag im dritten Quartal 2022 bei rund 237.000 Exemplaren. Das entspricht einem Minus von 40 Prozent seit 1998. Trotzdem dominiert die RHEINISCHE POST laut ÜBERMEDIEN den Markt Düsseldorfer Lokalzeitungen und hat andere Lokalangebote weitestgehend verdrängt. Für die Berichterstattung über einen Fall mehrfacher Kindstötung in Solingen hat die RHEINISCHE POST zusammen mit der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und der BILD eine Rüge des Presserats erhalten. Die RHEINISCHE POST hatte Chatnachrichten eines Kindes veröffentlicht. Die RP gilt als liberal-konservatives Blatt, das politisch der CDU nahesteht. Sie beschreibt sich selbst als „Zeitung für Politik und christliche Kultur“, die für „Demokratie, Freiheit und Menschenwürde“ eintritt.
Die Perspektive in 30 Sekunden
Peter Toussaint, Mitglied der Chefredaktion der NEUEN RUHR ZEITUNG (NRZ), hält es für überfällig, dem „Rechtsbruch“ der Protestierenden ein Ende zu bereiten – und Lützerath zu räumen. Über die hartnäckigen Proteste kann er nur den Kopf schütteln. „Wer es gut mit ihnen meint, nennt diese Leute ‚Klimaaktivisten‘“, kommentiert er. „Fakt ist: Es sind Hausbesetzer, die sich widerrechtlich Zugang zu Grundstücken und Gebäuden verschafft haben.“
Toussaint untermauert seine Position anhand eines Gedankenspiels: „Mag ein jeder sich vorstellen, wie es ist, wenn die Leute ihre Hütten und Barrikaden im eigenen Vorgarten zusammennageln“, schreibt er. Unter dem Strich sei das illegal – und ein Rechtsbruch werde „nicht schöner, wenn der Grundstückseigentümer ein Energiekonzern ist“. Dass selbst die Grünen den Deal mit RWE abgesegnet haben, beweise, dass das Auflehnen der Besatzer:innen nicht einmal mit der Klimaerwärmung zu rechtfertigen sei.
Doch der Staat dürfe sich von dem „Liebesentzug“ der Protestierenden nicht unter Druck setzen lassen. Toussaint glaubt auch nicht, dass die fortdauernde Besetzung von Lützerath der Bevölkerung imponiert. Vielmehr störe sie das Rechtsempfinden vieler Menschen und gefährde das Vertrauen in das Gewaltmonopol des Staates. Der Autor appelliert: „Lützerath muss geräumt werden. Besser heute als morgen.“
Anmerkungen der Redaktion
Peter Toussaint ist Mitglied in der Chefredaktion und Blattmacher bei der Regionalzeitung NRZ. In der Mantelredaktion liegt sein Fokus auf überregionalen Themen aus dem Ressort Politik.
Die NEUE RUHR ZEITUNG (NRZ) ist eine seit 1946 erscheinende Regionalzeitung aus Nordrhein-Westfalen mit Redaktionssitz in Essen. Dietrich Oppenberg bekam nach dem Zweiten Weltkrieg von der britischen Militärverwaltung die Lizenz zur Herausgabe einer Zeitung. Einer der Mitlizenznehmer war der SPD-Politiker Wilhelm Nieswandt, der auch später Oberbürgermeister von Essen wurde. Von den Briten wurde die Lizenz für eine sozialdemokratische Zeitung erteilt, nach dem System des Außenpluralismus. Danach sollte es mehrere konkurrierende Zeitungen geben mit unterschiedlich ausgerichteten, aber klar bestimmten Weltanschauungen. Im westlichen Ruhrgebiet erscheint sie unter dem Namen NEUE RUHR ZEITUNG, am Niederrhein unter dem Namen NEUE RHEIN ZEITUNG. Die Zeitung gehört zur Funke Mediengruppe und unterhält dreizehn Lokalredaktionen. Die überregionalen Seiten der Zeitung werden von einer Zentralredaktion gemeinsam mit der WESTDEUTSCHEN ALLGEMEINEN ZEITUNG (WAZ) und der WESTFÄLISCHEN ZEITUNG geschrieben. Die Auflage wird innerhalb der Zeitungen, die in Nordrhein-Westfalen zur Funke-Mediengruppe gehören, nicht gesondert ausgewiesen. Deren verkaufte Auflage lag im dritten Quartal 2022 bei rund 388.200 Exemplaren.
„‚Dass die Kohle von Lützerath kurzfristig für die Verstromung gebraucht wird, ist schmerzlich‘“
Die Welt, 02.01.2023 - Mona Neubaur, Guido M. Hartmann
Zum Originalartikel
Die Perspektive in 30 Sekunden
NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) hält die Räumung von Lützerath weiterhin für alternativlos – trotz massiver Kritik aus der eigenen Wählerschaft. Im WELT-Interview mit Redakteur Guido M. Hartmann verteidigt die stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes NRW die Einigung mit RWE – und bekennt: „Dass die Kohle unterhalb von Lützerath kurzfristig für die Verstromung gebraucht wird, ist schmerzlich (…).“
Dennoch sei es rechtlich und auch durch Fachgutachten eindeutig geklärt, dass Lützerath weichen müsse: Ohne die Kohle des Weilers sei es unmöglich, die Transformation zu einer klimaneutralen Industrie ohne Wohlstandsbrüche zu schultern. Fraglos sei es das Ziel, so schnell wie möglich aus der Nutzung fossiler Energien herauszukommen. Daher sei auch der Kohleausstieg im Jahr 2030 eingroßer klimapolitischer Erfolg. „Durch die Einigung mit dem Bund und dem bergbautreibenden Unternehmen bleiben rund 280 Millionen Tonnen Kohle dauerhaft in der Erde des Tagebaus, den wir damit auch physisch neu begrenzen“, betont Neubaur.
Vorerst sei es aber wichtig, die Versorgungssicherheit nicht zu gefährden. Um den Strombedarf zu decken, hole RWE sogar Mitarbeiter aus dem Ruhestand zurück. „Wir müssen den Beschäftigten von RWE Respekt zollen und dafür danken, dass wir in der jetzigen Übergangsphase die notwendigen Stromkapazitäten kurzfristig in den Energiemarkt bekommen“, plädiert Neubaur.
Anmerkungen der Redaktion
Mona Neubaur ist Politikerin der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Im Juni 2022 wurde sie im zweiten Kabinett von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) zur Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie sowie zur stellvertretenden Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen ernannt. Geboren wurde Mona Neubaur 1977 im bayerischen Pöttmes. Sie studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und schloss im Jahr 2003 als Diplom-Pädagogin ab. Nach dem Studium war sie zunächst als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit/PR bei dem Ökostromanbieter Naturstrom AG tätig. Von 2007 bis 2014 arbeitete Neubaur bei der Heinrich-Böll-Stiftung NRW, seit 2010 als Geschäftsführerin. Von 2014 bis 2022 war sie Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen in NRW.
Guido M. Hartmann ist Wirtschaftsredakteur bei WELT/WELT AM SONNTAG. Er studierte Politikwissenschaften, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Betriebswirtschaft in Aachen, Berlin, Köln und Paris. Sein Diplom erlangte er am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, wo er auch promovierte. Von 1992 bis 1999 arbeitete Hartmann als freier Journalist, unter anderem für die DEUTSCHE WELLE und die BERLINER MORGENPOST. Im Jahr 2000 begann er als Redakteur bei WELT/WELT AM SONNTAG, seit 2005 arbeitet er in der NRW-Redaktion in Düsseldorf.
DIE WELT ist eine überregionale Tageszeitung mit Sitz in Berlin, die zum Axel Springer Konzern gehört. Sie wurde 1946 gegründet und erschien zuletzt in einer verkauften Auflage von 88.079 Exemplaren (3/2022). Anfang 2010 lag diese noch bei über 250.000. Chefredakteurin der WELT ist seit dem 1. Januar 2022 Jennifer Wilton. EUROTOPICS bezeichnet die WELT als konservativ. In ökonomischen Fragen positioniert sich die Zeitung meist wirtschaftsliberal. Das Goethe-Institut urteilt, die WELT ziele in ihrer Printausgabe auf „mittelständische Unternehmer und Selbstständige, die konservative Werte schätzen“. WELT-Autor:innen bekennen sich zu den Leitlinien des Axel-Springer-Verlages, die unter anderem ein Eintreten für „die freie und soziale Marktwirtschaft“ sowie Solidarität mit den USA und Israel fordern.
„Die Zerstörung von Lützerath basiert auf einer wackligen Rechnung“
Focus, 10.01.2023 - Florian Reiter
Zum Originalartikel
Die Perspektive in 30 Sekunden
Wird die Kohle unter Lützerath wirklich gebraucht? In dieser Frage ist auch die Wissenschaft uneins. Der Redakteur Florian Reiter hat sich die Studienlage genauer angeschaut und stellt seine Recherchen im Nachrichtenmagazin FOCUS dar.
Die Landesregierung verweist in ihrer Argumentation auf ein Gutachten des Büros für Energiewirtschaft und technische Planung (BET).Das BET argumentiert, die Kohle unter Lützerath werde gebraucht.Klimaaktivist:innen dagegen stützten sich im Wesentlichen auf drei andere Untersuchungen: Die Analyse der Energieberatung „Aurora Energy Research“, eine gemeinsame Studie der Europa-Universität Flensburg (EUF) und des Bündnisses FossilExit, sowie eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag des Bündnisses „Alle Dörfer bleiben“. Alle drei resümieren, die Kohle unter Lützerath werde nicht gebraucht.
Laut Reiter sind die gegensätzlichen Ergebnisse damit zu erklären, dass sich die jeweiligen Studien auf unterschiedliche Annahmen stützen. Kohle werde grundsätzlich zwei verschiedenen Zwecken zugeführt: Der Großteil wird direkt verbrannt, um Strom zu erzeugen. Ein kleinerer Teil wird „veredelt“, um daraus Brennstoffe wie Briketts oder Braunkohlestaub herzustellen. „Doch den zusätzlichen Bedarf für die ‚Veredelung‘ hatten die Studien der Klima-Aktivisten ausgeklammert“, so Reiter.
Gleichzeitig begründe das BET, auf dessen Gutachten die Regierung abstellt, dass der darin prognostizierte Kohlebedarf das Ergebnis „eines Informationsaustauschs mit RWE“ sei – und dazu „eine grobe Abschätzung“. Kritische Stimmen jedoch halten die vom BET berechnete Menge für deutlich zu hoch.
Reiter schlussfolgert: „Die Räumung von Lützerath, sie hängt also an einer Zahl, die teils grob geschätzt ist, teils von RWE selbst stammt.“ Zwar gibt der FOCUS-Autor zu bedenken, dass auch Studien, die im Auftrag von Klima-Aktivist:innen entstehen, „keine endgültige Autorität“ besitzen. Ebenso problematisch sei aber, dass die NRW-Landesregierung „keine besseren Zahlen“ habe. Aus Reiters Sicht steht die Rechnung, die als Begründung für die Zerstörung des Ortes dienen soll, somit zumindest „auf wackligen Füßen“.
Anmerkungen der Redaktion
Florian Reiter arbeitet als Redakteur für das Nachrichtenportal FOCUS ONLINE. Er schreibt schwerpunktmäßig über die Themen Klima, Energie und Wirtschaft.
Der FOCUS ist ein wöchentlich erscheinendes deutsches Nachrichtenmagazin. Er wurde 1993 vom Hubert Burda Verlag als Konkurrenz zum SPIEGEL gegründet. Das Magazin erschien zuletzt in einer verkauften Auflage von 243.659 Exemplaren (3/2022) und gehört damit zusammen mit dem SPIEGEL und dem STERN zu den reichweitenstärksten deutschen Wochenmagazinen. Der FOCUS gilt dabei in seiner Ausrichtung im Vergleich zu den beiden Konkurrenzmagazinen als konservativer. Auch der Online-Auftritt des Magazins gehört zu den reichweitenstärksten in ganz Deutschland: Laut der Arbeitsgemeinschaft Online Forschung (AGOF) hatte FOCUS.DE im Dezember 2021 rund 27 Millionen Nutzer:innen zu verzeichnen. Das GOETHE-INSTITUT befindet, das Blatt vertrete eine wirtschaftsliberale Haltung und wende sich „mit vielen grafischen Darstellungen und farbintensiven Bildern insbesondere an Leser:innen mit weniger Zeit“. Wie viele andere Medien in Deutschland hat der FOCUS seit Jahren stark sinkende Verkaufszahlen zu verzeichnen: Anfang 2000 lag die Auflage noch bei knapp 811.000 verkauften Exemplaren.
„‚RWE versucht, die Leute zu brechen‘“
Frankfurter Rundschau (FR), 05.09.2022 - Eckardt Heukamp, Barbara Schnell
Zum Originalartikel
Die Perspektive in 30 Sekunden
Alle ursprünglichen Bewohner:innen haben Lützerath längst verlassen. Der letzte unter ihnen war der Bauer Eckardt Heukamp: Er kämpfte jahrelang um seinen denkmalgeschützten Hof, den er in vierter Generation führte. Im September 2022 ging dieser nach langwieriger juristischer Auseinandersetzung in den Besitz von RWE über. „Sie versuchen, die Leute zu brechen, und oft gelingt ihnen das auch“, bekennt Heukamp im Gespräch mit der Journalistin und Fotografin Barbara Schnell für die Tageszeitung FRANKFURTER RUNDSCHAU (FR).
Als das Land NRW und der Energiekonzern RWE ein Enteignungsverfahren gegen ihn in die Wege leiteten, verbündete Heukamp sich mit der Klimabewegung. Dieser hatte er zuvor bereits Wohnraum und Teile seines Grundstücks zur Verfügung gestellt. „Die Aktivisten haben mir geholfen, kundige Anwälte zu finden, und sie haben während des ganzen Prozesses hinter mir gestanden“, erzählt er. Das sei für beide Seiten nützlich gewesen: „Ohne mich hätten die Aktivisten hier nicht Fuß fassen können; ohne die Aktivisten wäre Lützerath nicht dieser Symbolort gewesen.“
Dennoch habe sich die Niederlage schon sehr früh abgezeichnet. Seit Jahren baue RWE Sümpfungspumpen in der Region, um das Grundwasser abzusenken. „Und natürlich droht auch für jede einzelne Pumpe ein Enteignungsverfahren, wenn man sich weigert, den Boden dafür und für die Zufahrt abzutreten“, räumt Heukamp ein. Es sei schmerzhaft, zu sehen, wie der Konzern die landwirtschaftlichen Flächen in Beschlag nimmt. „Wenn man bedenkt, wie viele Generationen dieses Land bewirtschaftet haben“, unterstreicht der Bauer.
Zwar gebe es auf der anderen Seite des Tagebaus rekultivierte Flächen, deren Bodenqualität aber nicht mit Lützerath vergleichbar sei. Das habe es auch für den Energiekonzern schwierig gemacht: „Es ist für RWE etwas ganz anderes, Ersatzflächen für einen landwirtschaftlichen Betrieb zu finden, als eine Familie umzusiedeln“, so Heukamp. Gutes Ackerland sei in Deutschland rar und der Boden im Rheinischen Revier gehöre zu den besten Böden Deutschlands. „Das ist eigentlich unersetzlich“, betont er.
Nachdem er den Gerichtsprozess um seinen Hof verloren hatte, stellte RWE ihm übergangsweise einen Hof in der Nähe zur Verfügung, den er nach zwei Jahren wieder verlassen muss. Dennoch ist Heukamp überzeugt, dass es richtig war, den Weg des Widerstands zu gehen – denn es gebe noch genug zu tun. Vor allem müsse das Bergrecht geändert werden, das in Teilen noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt: „Dass ein Gesetz aus der Nazizeit hier alles aushebeln kann – Denkmalschutz, Naturschutz, Menschenschutz -, das ist von gestern und gehört dringend geändert“, plädiert er.
Anmerkungen der Redaktion
Eckardt Heukamp ist ein Landwirt aus Erkelenz. Sein Hof, der denkmalgeschützte Duisserner Hof im Braunkohledorf Lützerath, ging im September 2022 nach langwieriger juristischer Auseinandersetzung in den Besitz des Energiekonzerns RWE über. Als letzter Bauer in Lützerath wurde Heukamp zu einer Symbolfigur der Klimabewegung.
Barbara Schnell ist Fotografin und freie Journalistin aus Krefeld. Ihre Artikel erscheinen unter anderem in der Tageszeitung FRANKFURTER RUNDSCHAU (FR). Eines ihrer Fotos wurde 2022 zum „NRW-Pressefoto des Jahres“ gekürt: Die Aufnahme mit dem Titel „Unbeirrbar“ zeigt einen Klima-Aktivisten, der an der Abbruchkante bei Lützerath mit ausgestreckten Armen vor einem Braunkohlebagger kniet. Erschienen war das Foto in der FR. Schnell arbeitet außerdem als deutsche Übersetzerin englischsprachiger Literatur.
Die FRANKFURTER RUNDSCHAU (FR) ist eine Tageszeitung mit Sitz in Frankfurt am Main. Sie erschien erstmals 1945 und sollte ein linksliberales Gegenmodell zur eher konservativ ausgerichteten Frankfurter Konkurrenz (FAZ, FNP) darstellen. Durch die Medienkrise brach das sonst auflagenstarke Blatt ab 2001 ein und musste 2012 Insolvenz anmelden. Das Goethe-Institut bemerkte 2011, das einstige „Leitmedium der linken Intellektuellen“ sei redaktionell „bis zur Bedeutungslosigkeit ausgedünnt“. Nach mehreren Übernahmen und Verkäufen in den vergangenen zwanzig Jahren gehört die FR seit 2018 zur Ippen-Verlagsgruppe, einem der größten Medienkonzerne in Deutschland. Der Ippen-Konzern stand 2021 in der Kritik, weil Verlagschef Dirk Ippen eine kritische Berichterstattung seines verlagseigenen Investigativ-Teams über den umstrittenen Ex-BILD-Chefredakteur Julian Reichelt verboten hat. Die Auflage der FRANKFURTER RUNDSCHAU wird nur zusammen mit anderen Publikationen des Ippen-Konzerns im Raum Hessen ausgegeben: Die verkaufte Auflage dieser insgesamt sechs Publikationen lag im dritten Quartal 2022 bei rund 140.000 Exemplaren.