Eine hebräische Broschüre aus dem Jahr 1936

Unterricht am einzigen jüdischen Gymnasium: Gedenkstätte "Jawne" in Köln

Kinder und Jugendliche aus der ganzen Region besuchten zwischen 1919 und 1942 das Kölner Reform-Realgymnasium Jawne. Ein hebräisches Gedicht, das der Schulleiter Dr. Erich Klibansky 1936 mit Anmerkungen herausgab, verweist auf die pädagogischen Ziele seiner Schule: Den Schülerinnen und Schülern sollten neben Allgemeinbildung auch jüdische Kultur und eine positive jüdische Identität als Fundamente ihres zukünftigen Lebens vermittelt werden. Heute ist die Jawne Lern- und Gedenkort, der an die Kinder, Lehrerende und ihre von Emigration und Verfolgung geprägten Lebenswege erinnert.

1919 gründete die kleine „toratreue“, also orthodoxe, Kölner Gemeinde Adass Jeschurun die einzige weiterführende jüdische Schule im Rheinland. Von der jüdischen Großgemeinde mitfinanziert, war das Gymnasium in einem Gebäude mit dem Jüdischen Lehrerseminar und der Volksschule Moriah neben der Gemeindesynagoge untergebracht. 1929, mit nur 28 Jahren, wurde Dr. Erich Klibansky zum Direktor des Real-Reformgymnasiums Jawne berufen.

Schon in seiner Einführungsrede als Schulleiter verdeutlichte Klibansky 1929 seine pädagogische Grundüberzeugung: „Es ist die Aufgabe der jüdischen Schule, harmonisch gebildete Persönlichkeiten zu erziehen, die befähigt sind, wertvolle Glieder des Staates und der menschlichen Gesellschaft überhaupt zu werden.“ Das Bildungsideal, das er seinen Schülern unter den schwierigen Bedingungen von NS-Herrschaft und zunehmender Verfolgung vermitteln wollte, findet sich in einer Broschüre aus dem Jahr 1936. Sie enthält das Gedicht ‚Birkat Am‘ des berühmten hebräischen Dichters Chajim Nachman Bialik (1873-1934). Klibansky hat ein Nachwort und zusätzliche Anmerkungen verfasst, um es für den Unterricht nutzen zu können.

Das Gedicht, übersetzt heißt es „Segen des Volkes“, war sehr beliebt bei den frühen zionistischen Pionieren in Palästina. Sie wanderten am Ende des 19. Jahrhunderts aus Europa in den Nahen Osten aus, um einen jüdischen Nationalstaat zu gründen. Das Gedicht beschwört die nationale Aufbruchsstimmung, mit der im „Gelobten Land“ ein neuer Staat entstehen sollte: „Seid starken Armes, ihr Brüder! Der Heimat/Boden zu hegen, ward euer Teil! Nicht sink‘ euer Mut! Nein, heiter und jubelnd/Kommt, Schulter an Schulter, dem Volke zum Heil!“

Chajim Nachman Bialik, der aus der Ukraine stammte und lange in Odessa lebte, schrieb sein Gedicht in dieser Zeit. Er selbst wanderte 1924 nach Palästina ein und ließ sich in Tel Aviv nieder. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hielt er sich noch einige Zeit in Deutschland auf. Mit seiner Lyrik gab er dem modernen Hebräisch neuen Auftrieb und gilt heute als einer der Nationaldichter Israels.

„Es gibt bedeutendere Gedichte von Chajim Nachman Bialik als seine ‚Birkat Am‘.“ Klibansky, Pädagoge und Sprachwissenschaftler, konnte sich diese Bemerkung in seinem deutschsprachigen Nachwort nicht verkneifen, um dann aber hinzuzufügen: „Dieses aber ist am volkstümlichsten geworden, hat geradezu den Rang einer wirklichen Nationalhymne gewonnen.“ Diesen Rang hat es bis heute behalten, auch wenn mit der Hatikva ein anderes Lied zur israelischen Nationalhymne ernannt wurde.

Erich Klibansky (1900-1942) stammte aus einer jüdisch-orthodoxen Familie in Frankfurt, studierte an der Universität Marburg Geschichte, Deutsch und Französisch und promovierte mit einer historischen Arbeit. Gleichzeitig verfügte er über eine umfangreiche jüdische Bildung. Das belegen Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie seine Kommentare in der Broschüre aus dem Jahr 1936. Klibansky war vermutlich kein organisierter politischer Zionist, zeigte sich aber dem Gedanken des kulturellen Zionismus und einer religiös-kulturellen Erneuerung des jüdischen Volks gegenüber aufgeschlossen. Was ihn faszinierte und was er seinen Schülern vermitteln wollte, war Bialiks Gebrauch der hebräischen Sprache: die kunstvolle und anspielungsreiche Verwendung von Zitaten aus der hebräischen Bibel und traditioneller jüdischen Literatur.

Dass Klibansky sein Nachwort auf den 7. Adar I des jüdischen Jahres 5695 (1. März 1936) datierte, war vielleicht kein Zufall: Der 7. Adar gilt in der jüdischen Tradition als Geburts- und Todestag von Moses, der – wie im zweiten Buch Mose, auch „Exodus“ genannt, nachzulesen ist – das Volk Israel von Ägypten durch die Wüste (fast) bis ins Gelobte Land führte.

Der Druck auf Klibansky und die jüdischen Schüler hatte 1936 durch die nationalsozialistische Ausgrenzung bereits stark zugenommen. Wurde die Jawne vor der NS-Machtübernahme vor allem von Jugendlichen besucht, deren Eltern neben der allgemeinschulischen Bildung eine stärkere religiöse Erziehung wünschten, änderte sich dies ab 1933. Wegen steigender Ausgrenzung wechselten auch jüdische Schüler auf die Jawne, die sich nicht als orthodox verstanden. Erich Klibansky bemühte sich sehr, diese Kinder in die Jawne zu integrieren, ohne den speziellen Charakter der Schule aufzugeben. Er erkannte die Zeichen der Zeit klarer als viele andere und bereitete die Schüler auf ein Leben außerhalb Deutschlands vor. So förderte er insbesondere den Unterricht in Fremdsprachen wie Englisch, Französisch und modernem Hebräisch.

Nach dem Novemberpogrom 1938 bemühte sich Klibansky, seine ganze Schule ins Ausland zu retten. Es gelang ihm, 130 Schüler in vier Transporten im Rahmen des sogenannten Kindertransports nach England zu bringen. Mit dieser Rettungsaktion konnten etwa 10.000 unbegleitete jüdische Kinder und Jugendliche aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei nach Großbritannien ausreisen.

Erich Klibansky begleitete alle Transporte, kehrte aber immer wieder nach Köln zurück. Seine Bemühungen, mit seiner Frau Meta und den drei Söhnen auszuwandern, scheiterten. Trotz der immer bedrohlicher werdenden Umstände setzte er mit seinen Kollegen – darunter auch seiner Frau – den Unterricht so lange wie möglich fort. Doch am 30. Juni 1942 verboten die Nationalsozialisten jeglichen Unterricht für jüdische Kinder und schlossen die Schule. Drei Wochen später wurde die Familie Klibansky zusammen mit über 1.100 Juden nach Minsk deportiert und direkt nach der Ankunft in Malyj Trostenez ermordet.

Auf dem Lehrplan der Jawne standen die Traditionen und Kultur des Judentums, der sich dadurch von anderen Lehrplänen unterschied. Die Schüler waren jedoch normale „Kinder von nebenan“. Sie kamen aus dem heutigen Nordrhein-Westfalen und hatten ähnliche Sorgen und Träume wie ihre nichtjüdischen Altersgenossen. Ab 1933 allerdings änderte sich ihre Lebenswelt radikal – und die Schule wurde immer mehr zu einem Schutzraum.

Die Geschichte der Jawne und die von Verfolgung und Flucht geprägten Lebenswege der Schüler ist seit 2007 in der Dauerausstellung „Die Kinder auf dem Schulhof nebenan“ dokumentiert. Im Lern- und Gedenkort Jawne am Erich-Klibansky-Platz, dem historischen Ort der Jawne, stehen die positiven Geschichten im Mittelpunkt, ohne Verfolgung und Diskriminierung zu vergessen. Es geht um Schulalltag, Feiertage und Freundschaften. Junge Besucher finden so Anknüpfungspunkte an ihre eigene Lebenswelt. Empathie und Verständnis sind wichtige Ziele der pädagogischen Arbeit im Lern- und Gedenkort Jawne.

Auch mit Seminaren für Kinder und Jugendliche hält ein ehrenamtlicher Arbeitskreis die Erinnerung an diesen Ort und jüdisches Alltagsleben in der rheinischen Millionenstadt wach. An den Gedenktagen am 9. November, dem Jahrestag der Pogromnacht, und am 27. Januar, dem internationalen Holocaustgedenktag, finden Gedenkveranstaltungen statt. Schulklassen präsentieren ihre eigenständig erarbeiteten Projekte, und ehemalige Schüler der Jawne kommen zu diesen Anlässen an den Ort ihrer alten Schule zurück.

Die Initiative zur Gründung des Lern- und Gedenkorts ging von den inzwischen verstorbenen Kölner Eheleuten Dieter und Irene Corbach aus, die sich viele Jahre mit der NS-Vergangenheit Kölns befasst und im Zuge dessen insbesondere die Geschichte der jüdischen Schulen in der Stadt erforscht haben. Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass der Platz, an dem sich der Lern- und Gedenkort Jawne befindet, seit 1990 Erich-Klibansky-Platz heißt.

Der Arbeitskreis „Lern- und Gedenkort Jawne“ hat den Gedichtband mit den Anmerkungen Klibanskys an seinen ehemaligen Nutzungsort gebracht. In einem israelischen Antiquariat (über das Internet) fanden engagierte Vereinsmitglieder die alte Publikation. Der Vorbesitzer war ein aus Deutschland nach Israel ausgewanderter Rabbiner.

Das historische Schulgebäude (ebenso die Synagoge) ist nicht mehr vorhanden, doch eine große Kastanie markiert den Ort. Dort befindet sich auch die Kindergedenkstätte Löwenbrunnen: In die Umrandung eines Brunnens sind Bronzeplatten mit den Namen der über 1.100 aus Köln deportierten jüdischen Kinder und Jugendlichen eingelassen. Die beeindruckende Löwenfigur wurde von dem ehemaligen Jawneschüler Hermann Gurfinkel geschaffen – der Löwe von Juda ist ein schon aus der Bibel bekanntes Symbol für das Judentum.

Weitere Informationen:
www.jawne.de
www.kindertransporte-nrw.eu
www.kindertransport-17uhr13.de