Sommer mit 9-Euro-Ticket: Sollte der ÖPNV langfristig kostengünstig bleiben?

24.06.2022 - Themenbereiche: Gesellschaft, Umwelt und Nachhaltigkeit
Regionalzug der Deutschen Bahn im Münsterland

Kurzfassung

Auto oder Öffis? Zumindest im Preisvergleich fällt die Rechnung in NRW nicht selten zulasten von Bus und Bahn aus. Kostet ein Einzel-Fahrschein von Köln nach Düsseldorf etwa regulär 11,30 Euro, forderte der PKW zu Beginn des Jahres für dieselbe Strecke nur rund den halben Preis für Kraftstoff ein. Der immer lauter werdenden Klimabewegung zum Trotz nimmt die PKW-Dichte in NRW laut Statistischem Landesamt seit Jahren zu. Doch angesichts derjüngsten Preisexplosionen an den Zapfsäulen geraten auch Autofreund:innen vielerorts ins Wanken.

Das jüngst eingeführte 9-Euro-Ticket soll Abhilfe schaffen: In den Sommermonaten dürfen Pendler:innen und Reisende damit pro Monat alle öffentlichen Verkehrsmittel im Nahverkehr in NRW und sogar deutschlandweit nutzen. Die Maßnahme ist Teil eines Entlastungspakets, mit dem die Bundesregierung die steigenden Energiepreise zu kompensieren versucht. Ganz nebenbei soll das 9-Euro-Ticket aber auch der Verkehrswende einen Booster verpassen, indem es mehr Bürgerinnen und Bürger für Bus und Bahn begeistert.

Billig-ÖPNV bleibt trotzdem umstritten

Doch was für einige wie ein Freifahrtschein klingt, bleibt als verkehrspolitische Maßnahme umstritten. Denn Fachleute bezweifeln, dass das Billigticket Pendler:innen und Reisende auch über den Sommer hinaus an den ÖPNV bindet. Von der durch das Landesverkehrsministerium ausgerufenen „ÖPNV-​​Offensive“ etwa, mit der der Nahverkehr in NRW ausgebaut werden soll, haben viele bislang kaum etwas mitbekommen: Vor allem Menschen im ländlichen Raum fühlen sich in Sachen ÖPNV häufig auf dem Abstellgleis, weil es nicht etwa an günstigen Tickets, sondern schlicht an Zügen und Bussen mangelt.

Unbestritten ist: Der für die Verkehrswende dringend nötige ÖPNV-Ausbau braucht Zeit – und Geld. Um das ermäßigte Ticket zu kompensieren, greift der Bund den Ländern mit 2,5 Milliarden Euro unter die Arme. NRW-Verkehrsministerin Ina Brandes (CDU) hält das für zu wenig: Es brauche mehr Hilfen vom Bund, „um die Zukunftsfähigkeit des öffentlichen Nahverkehrs abzusichern“, heißt es hierzu in einer Pressemitteilung.

Wäre es trotz allem eine gute Idee, die Ticketpreise im ÖPNV langfristig kostengünstig zu belassen? Oder wird der Nutzen von Preissenkungen im ÖPNV für die Verkehrswende grob überschätzt?

Acht Perspektiven

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„9-Euro-Ticket legt Privilegien offen“

TAZ, 07.06.2022 - Silke Mertins

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der ÖPNV muss dauerhaft erschwinglich bleiben, appelliert die Ressortleiterin Silke Mertins. Vor allem die Deutsche Bahn betreibe seit Jahren durch die „teilweise horrenden Preise“ im Nahverkehr „soziale Auslese“: „Mobilität ist eine Frage des Geldes und Bahnfahren das Privileg jener, die nicht auf jeden Euro schauen müssen“, kritisiert die Politikwissenschaftlerin in ihrem Kommentar für die TAGESZEITUNG (TAZ).

Mertins argumentiert anhand eines Fallbeispiels: So zahle eine Familie aus Hagen für einen spontanen Tagesausflug nach Köln mit dem „Schöner-Tag-Ticket NRW“ satte 45,70 Euro. Wer sich das – und auch ein Auto – nicht leisten könne, der verzichte häufig ganz auf Ausflüge wie diesen. „Zugfahren wird zu häufig als klimapolitische Notwendigkeit diskutiert und zu selten als Frage der sozialen Gerechtigkeit“, resümiert die Autorin. Immerhin gehöre die Deutsche Bahn dem Staat – und damit allen Bürger:innen.

Wenig überraschend führe das 9-Euro-Ticket vielerorts zu volleren Bussen und Zügen. „So also sieht die Welt aus, wenn sich alle die Fahrkarten leisten können“, lobt Mertins. Das 9-Euro-Ticket werfe endlich ein Schlaglicht auf das, was die Deutsche Bahn sein könnte: „ein bequemes, zeitgemäßes, klimafreundliches und sozial gerechtes Fortbewegungsmittel“.

Anmerkungen der Redaktion

Silke Mertins ist eine deutsche Politikjournalistin. Die studierte Politikwissenschaftlerin und Ethnologin ist seit 2016 im Ressort Meinung als Redakteurin und Kolumnistin bei der TAGESZEITUNG (TAZ) tätig. Außerdem schreibt sie seit 2014 für die Schweizer Tageszeitung NEUE ZÜRCHER ZEITUNG (NZZ) als Berlin-Korrespondentin. Von 2000 bis 2013 war sie in der Auslandsredaktion der FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND für Afrika sowie den Nahen und Mittleren Osten zuständig, davon sechs Jahre als Korrespondentin. Mertins arbeitet zusätzlich als Beraterin und Schreibcoach.

Die TAGESZEITUNG (TAZ) ist eine überregionale deutsche Tageszeitung. Sie wurde 1978 als alternative, selbstverwaltete Zeitung – unter anderem vom Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele – gegründet. Die Zeitung hat sich besonders in ihrer Anfangszeit an Linke, Studierende, Grüne und die Hausbesetzer-Bewegung gerichtet. Erklärtes Ziel der TAZ ist es seither, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Sie gehört heute zu den zehn größten überregionalen Tageszeitungen in Deutschland, mit einer verkauften Auflage von rund 49.000 Exemplaren (1/2022). Das Goethe-Institut verortet die TAZ als „grün-linkes“ Blatt und betont besonders die oft sehr kritische Berichterstattung der Zeitung. EUROTOPICS sieht die TAZ als linkes Medium und stellt die gestaffelte Preisgestaltung und die Entscheidung gegen Online-Bezahlschranken als Besonderheiten der Zeitung heraus. Die TAZ wird genossenschaftlich herausgegeben, jährlich findet eine Generalversammlung statt, an der jedes der zuletzt (2021) rund 20.000 Mitglieder teilnehmen kann.

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„Der klare KURIER-Kommentar: Erst 9-Euro-Ticket, dann die Preise erhöhen – ist das ein schlechter Witz?“

Berliner Kurier, 01.06.2022 - Florian Thalmann

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der Redakteur Florian Thalmann glaubt, dass es ohne einen günstigen ÖPNV keine Verkehrswende geben kann. Aus seiner Sicht hat es vor allem mit den Preisen zu tun, dass viele Menschen nicht mit Bus und Bahn fahren: „Das Billig-Ticket ist seit Jahren die erste echte Option, mit der die Menschen bewegt werden könnten, auf Öffis umzusteigen“, meint er in der Boulevardzeitung BERLINER KURIER.

Auch er selbst habe oft die Erfahrung gemacht, dass der Vergleich von Benzin- und ÖPNV-Preisen zugunsten des Autos ausfällt – da sei es wenig verwunderlich, dass Reisende sich nicht für Bus und Bahn begeistern können. Das 9-Euro Ticket habe er selbst hingegen freudig erwartet: „Ich zog […] das Ticket aus dem Automaten ... und es fühlte sich auf seltsame Art und Weise nach Freiheit an“, schwärmt Thalmann. Und dank des günstigen Fahrscheins stecke sein Sommer jetzt voller Pläne.   

Die Ankündigung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), dass die Preise nach dem Auslaufen des Tickets sogar ansteigen könnten, hält Thalmann für eine Farce. „Alle jammern über die Öko-Bilanz, die Menschen sollen ihre Autos stehen lassen – und dann werden allen, die darüber nachdenken, solche Aussichten geboten?“, moniert er. In seinen Augen kann das 9-Euro-Ticket nur der erste Schritt in die richtige Richtung sein – für einen dauerhaft günstigen Nahverkehr.

Anmerkungen der Redaktion

Florian Thalmann ist Redakteur bei der Boulevard-Zeitung BERLINER KURIER und der Berliner Tageszeitung BERLINER ZEITUNG (BLZ). Er hat zunächst angewandte Medienwirtschaft in Berlin studiert und danach ein Volontariat beim BERLINER KURIER absolviert. Seither arbeitet er für den BERLINER KURIER. Seit 2017 schreibt er zusätzlich für die BERLINER ZEITUNG. Für den BERLINER KURIER schreibt Thalmann mal über Essen, mal über Rockbands und Popstars sowie beizeiten über den deutschen Verkehr.

Der BERLINER KURIER ist eine Boulevardzeitung aus Berlin. Sie erscheint im Berliner Verlag und die verkaufte Auflage liegt bei 70.771 Exemplaren (Stand 2019). Die Zeitung ist das erste Mal 1949 unter dem Namen BZ AM ABEND erschienen. Sie war dem SED-Pressemonopol zuzurechnen und lange die einzige Abendverkaufszeitung der DDR. Auch heute noch ist sie vor allem in östlichen Teilen Berlins verbreitet. 2019 übernahm das Ehepaar Friedrich den Berliner Verlag. Beide wurden bereits mehrfach kritisiert, in die redaktionellen Abläufe einzugreifen und die journalistische Sorgfaltspflicht zu verletzen. Kurz nach der Übernahme des Verlags kam die Stasi-Vergangenheit von Holger Friedrich ans Licht. Anfang 2020 kündigte der Chefredakteur Matthias Thieme bereits nach drei Wochen seinen Vertrag nach internen Unstimmigkeiten. Seither bekleidet Margit Mayer übergangsweise den Posten der Chefredakteurin.

 

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„Bitte das Neun-Euro-Ticket fortsetzen – zur Not auch für 20 Euro“

Der Tagesspiegel, 05.06.2022 - Ariane Bemmer

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Die Redakteurin Ariane Bemmer hält günstigere Preise im ÖPNV für unverzichtbar – und zwar weit über den Angebots-Zeitraum des 9-Euro-Tickets hinaus. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, die aktuelle Aufbruchsstimmung zugunsten einer Zukunftslösung zu nutzen. „Tatsächlich könnte das Kurzzeitprojekt (…) durch den lauten Knall, den es produziert, dafür sorgen, dass sich in der Verkehrspolitik auch tatsächlich mal etwas ändert“, freut sich Bemmer in der Tageszeitung DER TAGESSPIEGEL.

Immerhin sei die Vorstellung, dass günstigere ÖPNV-Tickets dazu führen, dass mehr Menschen Bus und Bahn benutzen, ein alter Hut – „zumal im Land der Pfennigfuchser und Schnäppchenjäger“, überspitzt sie.

Den drohenden Finanzierungslücken gelte es, mit Kreativität und Beharrlichkeit zu begegnen. Spätestens die Festschreibung des Bundeswehr-Sondervermögens von 100 Milliarden Euro liefere in dieser Frage ein entscheidendes Argument: „Wenn es für Panzer und Jagdbomber problemlos Extra-Milliarden gibt, warum dann nicht für eine elementar wichtige Verkehrstransformation im Dienste der Menschheitsaufgabe Klimarettung?“, gibt Bemmer zu bedenken.

Die Journalistin hält es auch für denkbar, den Preis des 9-Euro-Tickets langfristig zu erhöhen – beispielsweise auf zwanzig Euro. Wichtig sei es allerdings, die Einfachheit des Angebots zu wahren, ohne Spezialtarife oder Kombi-Schnäppchen. „Die Menschen haben vielleicht schlicht Sehnsucht nach einfachen Lösungen“, reflektiert sie. Jetzt sei es endlich an der Zeit, den ÖPNV nachhaltig attraktiver zu machen. „Der Erfolg des Sondertickets könnte die Lethargiekruste von der Verkehrspolitik absprengen“, hofft Bemmer – und rät: „Dieser Moment sollte unbedingt genutzt werden.“

Anmerkungen der Redaktion

Ariane Bemmer absolvierte ihre Ausbildung an der Axel-Springer Akademie und arbeitete danach unter anderem für die MÄRKISCHE ALLGEMEINE und die WELT. Seit 2001 ist sie beim TAGESSPIEGEL und schreibt vor allem für die Seite Drei. Außerdem verfasst Bemmer Gastbeiträge für andere Medien. Dazu gehören DIE ZEIT sowie das Politmagazin CICERO.

DER TAGESSPIEGEL ist eine 1945 gegründete Tageszeitung aus Berlin. Er hat mit 102.000 Exemplaren (1/2022) die höchste Auflage unter den Berliner Abonnementzeitungen und wird im Unterschied zur BERLINER ZEITUNG traditionell vor allem in den westlichen Bezirken der Stadt gelesen, da die Mauer die Verbreitung der Zeitung auf Westberlin beschränkte. Seit 2014 erhält der TAGESSPIEGEL besondere Aufmerksamkeit durch den Checkpoint Newsletter, der täglich aus Berlins Politik, Wirtschaft und Gesellschaft berichtet. EUROTOPICS beschreibt die Blattlinie der Zeitung als liberal. Der TAGESSPIEGEL wurde lange Zeit den regionalen Zeitungen zugerechnet, verfolgt seit einigen Jahren jedoch verstärkt eine überregionale Ausrichtung. Die Printauflage bleibt jedoch stark regional dominiert.
 

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„Der Neun-Euro-Schwindel“

Kontext: Wochenzeitung, 11.05.2022 - Johanna Henkel-Waidhofer

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Die Diskussion um einen vergünstigten ÖPNV kommt zu früh, findet die Journalistin Johanna Henkel-Waidhofer. Zu glauben, allein günstige Preise könnten dazu führen, dass mehr Deutsche langfristig auf Bus und Bahn umsteigen, sei naiv – denn für eine Verkehrswende brauche es weitaus mehr. „Längst (…) hätten sich alle Beteiligten mit den Zusammenhängen befassen können“, kritisiert Henkel-Waidhofer in der KONTEXT: WOCHENZEITUNG.

Um diese besser zu verstehen, lohne ein Blick auf die österreichische Hauptstadt Wien. Dort gebe es seit 2012 eine Jahreskarte für den öffentlichen Nahverkehr für 365 Euro. Doch die Schrittfolge der Verkehrspolitiker:innen an der Donau hält Henkel-Waidhofer für besser durchdacht: „Der neuen Tarifstruktur ging (…) eine von langer Hand geplante Ausweitung des Angebots voraus, gerade um NeukundInnen nicht gleich wieder abzuschrecken.“ Um die PKW-Nutzung unattraktiver zu machen, brauche es auch Untersuchungen zufolge immer eine Kombination von Maßnahmen: etwa höhere Park-Gebühren, einen konsequenteren ÖPNV-Ausbau sowie eine bessere Verknüpfung mit dem Rad- und Fußverkehr.

„Zukunftsmusik hierzulande“, bemängelt Henkel-Waidhofer. Denn für eine solch eine großangelegte Offensive fehle in der Bundesrepublik seit Jahren die politische Mehrheit – und auch das nötige Geld. Die 2,5 Milliarden Euro, die der Bund jetzt in das 9-Euro-Ticket investiert, hält Henkel-Waidhofer für schlecht investiert: Denn die Verbilligung der Fahrpreise packe das ÖPNV-Problem keineswegs an der Ursache an.
 

Anmerkungen der Redaktion

Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer ist eine österreichische Journalistin, Autorin und Korrespondentin für Landespolitik für mehrere deutsche Tageszeitungen, unter anderem DIE ZEIT, DER SPIEGEL, die TAZ und die KONTEXT: WOCHENZEITUNG. Die studierte Germanistin und Historikerin begann ihre journalistische Karriere bei der österreichischen Tageszeitung KURIER, ehe sie 1980 nach Stuttgart zog und bei der Lokalredaktion der STUTTGARTER NACHRICHTEN weiterarbeitete. Darüber hinaus ist Henkel-Waidhofer eine bekannte Jugendbuchautorin: Sie war die erste deutschsprachige Autorin der populären „Die drei-???-Buchreihe“ und verfasste insgesamt 16 Bücher.

KONTEXT: WOCHENZEITUNG ist eine Wochenzeitung, die jeden Mittwoch in digitaler Form erscheint und samstags der TAZ beiliegt. Die Zeitung sieht anzeigenfinanzierten Journalismus kritisch und lebt deshalb fast ausschließlich von Spenden. Sie will unabhängigen und investigativen Journalismus bieten und gilt als linkes Blatt. Gegründet wurde KONTEXT im Rahmen der Debatte um Stuttgart 21, dem Plan der Umstrukturierung des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Die Gründungsmitglieder kritisierten eine zunehmend oberflächliche Berichterstattung zu vielen Themen und wollten es anders machen.

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„Bringt das 9-Euro-Ticket Menschen langfristig zum Umsteigen? Chef des Verkehrsverbands bezweifelt das“

Redaktionsnetzwerk Deutschland, 30.05.2022 - Ingo Wortmann, Alisha Mendgen

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) Ingo Wortmann kann den Rufen nach einem dauerhaft günstigen ÖPNV nichts abgewinnen. Die bisherige Erfahrung mit einem besonders preiswerten Nahverkehr spreche eine eindeutige Sprache: „Zuerst muss das Angebot stimmen, der Preis ist zweitrangig“, konstatiert der VDV-Chef im Interview mit Hauptstadt-Korrespondentin Alisha Mendgen für das REDAKTIONSNETZWERK DEUTSCHLAND (RND).

Laut Wortmann brauche es vor allem neue Strecken und eine erhöhte Taktung, um den Nahverkehr attraktiver zu machen. Wenn der ÖPNV-Ausbau dagegen ins Stocken gerate – etwa, weil durch die Vergünstigungen Einnahmen wegfallen – seien Reisende auch nicht bereit, langfristig auf Bus und Bahn umzusteigen. „Ich möchte nicht von Chaos sprechen, aber es wird sehr viele volle Züge und Busse geben“, betont Wortmann. Unter den Fahrgästen führe das nicht selten zu einer angespannten Stimmung – was die Beliebtheit des Nahverkehrs keineswegs steigere.   

Wortmann warnt daher, dass es der Verkehrswende keineswegs zugutekomme, wenn die Finanzierungslücken durch die gesenkten Preise immer größer werden. Denn die Regionalisierungsmittel – die Bundesgelder für den ÖPNV – seien ohnehin schon viel zu knapp bemessen. Wenn die Branche jetzt auch noch steigende Energiepreise und wegfallende Einnahmen schultern müsse, wird das ÖPNV-Angebot laut Wortmann eher schlechter als besser.

Anmerkungen der Redaktion

Ingo Wortmann ist seit 2018 Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Der VDV ist der Dachverband der Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs sowie des Güterverkehrs. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Interessen der Mitgliedsbetriebe gegenüber der Politik zu vertreten und Öffentlichkeitsarbeit für den ÖPNV zu betreiben. Wortmann ist seit 1992 im Bereich Verkehr tätig: zunächst als Mitglied des Verkehrsausschusses der Stadt Wuppertal, später unter anderem bei den Dresdner Verkehrsbetrieben, den Stadtwerken Ulm/Neu-Ulm und der Münchner Verkehrsgesellschaft. Von 2010 bis 2018 ist er Vizepräsident des VDV gewesen, seit 2018 ist er Präsident des Verbands.

Alisha Mendgen ist Korrespondentin im Hauptstadtbüro beim REDAKTIONSNETZWERK DEUTSCHLAND (RND), wo sie auch ihr Volontariat absolviert hat. Als studentische Mitarbeiterin hat sie Artikel für die BILD und DIE ZEIT geschrieben. Zuvor hat Mendgen Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. In ihren Texten hat sie vor allem kulturpolitische Fragen behandelt, setzt sich nun aber auch mit gesamtgesellschaftlichen Themen auseinander.

Das REDAKTIONSNETZWERK DEUTSCHLAND (RND) ist eine 2013 gegründete überregionale Nachrichtenplattform der Madsack Mediengruppe. Der RND ist das Ergebnis von Umstrukturierungen und Sparmaßnahmen bei Lokalzeitungen: Der RND verkauft sein Angebot von überregionalen Nachrichten unter anderem an lokale Tageszeitungen wie die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG, die MÄRKISCHE ALLGEMEINE oder die OSTSEE-ZEITUNG. Die Madsack Mediengruppe gehört zu 23 Prozent der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft (DDVG), die die Medienbeteiligungen der SPD verwaltet. Laut Similarweb hatte der Webauftritt des RND im Mai 2022 rund 10 Millionen Besuche zu verzeichnen.

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„Kommentar: Zu teuer sagt der ADAC – ÖPNV in NRW“

WDR, 04.11.2021 - Stephan Karkowsky

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Wer einen gesunden ÖPNV will, muss ihn ausreichend finanzieren“, findet der Radiomoderator Stephan Karkowsky. In seinem Kommentar für den WESTDEUTSCHEN RUNDFUNK (WDR) plädiert er dafür, ÖPNV-Preise in allererster Linie auf ihre Wirtschaftlichkeit hin zu prüfen – und dabei keineswegs langfristig auf Einheitspreise zu setzen. 

„Klar wäre es schön, wenn die Tickets insgesamt günstiger wären“, räumt Karkowsky ein. „Aber wie soll das gehen?“ Denn ohnehin decke der Ticketverkauf des ÖPNV bei weitem nicht die Kosten. Das sei jüngst auch zwei Privatbahnbetreibern aus NRW teuer zu stehen gekommen: „Eurobahn und Rhein-Ruhr-Express lohnen sich nicht mehr“, weshalb die beiden Betreiber sich jetzt zurückziehen, gibt der Moderator zu bedenken. „Gewinne sind da nicht zu holen“, so Karkowsky.

Dauerhafte Einheitspreise würden die finanzielle Schieflage des ÖPNV aus seiner Sicht nur verschärfen – weil sie die Rahmenbedingungen der unterschiedlichen Verkehrsbetriebe zu wenig berücksichtigen. Auf dem Immobilienmarkt wundere sich schließlich auch niemand darüber, „[d]ass man in Düsseldorf teurer wohnt als in Duisburg (…)“. Das sei mit Fahrscheinen nicht anders: Jeder Verkehrsbetrieb müsse anders kalkulieren. Und ein gesunder ÖPNV hänge in erster Linie von einer gesunden Finanzierung ab. „Einheitliche Preise bringen uns diesem Ziel nicht näher“, schließt Karkowsky.
 

Anmerkungen der Redaktion

Stephan Karkowsky ist ein deutscher Journalist, Publizist und Radiomoderator. Er ist als freier Mitarbeiter für mehr als 200 Sendungen jährlich tätig und gehört damit zu den meist gebuchten Hörfunkmoderatoren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Zurzeit moderiert er regelmäßig für den WESTDEUTSCHEN RUNDFUNK für das Meinungsmagazin Politikum auf WDR5 sowie die Frühsendung Studio Neun im DEUTSCHLANDFUNK KULTUR. Karkowsky hat zwei Romane veröffentlicht: „Countdown im Adlon“ und „Technophobia“. 2015 hat er den Universitas-Preis für Wissenschaftsjournalismus der Hanns Martin Schleyer-Stiftung erhalten.

Der WESTDEUTSCHE RUNDFUNK (WDR) ist die größte der neun Landesrundfunkanstalten der ARD. Er entstand 1956, als sich der NWDR in den NDR und den WDR aufteilte. Die Sendeanstalt hat sechs Radioprogramme und einen Fernsehsender, zu dessen bekanntesten Programmen unter anderem das Politmagazin „Monitor“, die „Sportschau“ oder das Kinderangebot „Die Sendung mit der Maus“ gehören. Laut eigenen Angaben ist der Sender nach Anzahl der Beschäftigten das zweitgrößte Medienunternehmen Europas hinter der BBC. Laut der „Media-Analyse 2021“ erreicht der Fernsehsender des WDR in Deutschland täglich rund 8 Millionen Zuschauer:innen, der Radiosender erreicht rund 11 Millionen Zuhörer:innen. Der Webauftritt des WDR hatte im Mai 2022 laut Similarweb rund 14,8 Millionen Besuche zu verzeichnen.
 

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„Das 9-Euro-Ticket-Chaos in NRW ist das Beste, was uns passieren konnte“

Ruhr24, 22.06.2022 - Daniele Giustolisi

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Das 9-Euro-Ticket-Chaos in NRW ist im Grunde das Beste, was uns passieren konnte“, meint der leitende Redakteur Daniele Giustolisi. Auf dem Nachrichtenportal RUHR24 legt er dar, warum der Ampel-Koalition aus seiner Sicht Dank für das Sommerangebot gebührt – trotz „Chaos“.

Giustolisi sieht in dem 9-Euro-Ticket vor allem die Chance, mehr darüber zu lernen, warum der ÖPNV in NRW noch immer zu wenig genutzt wird: „[I]n einer nie da gewesenen Feldstudie wird das Billig-Ticket für Bus und Bahn zeigen, was die Menschen in NRW sonst vom Fahren mit dem ÖPNV abhält“, so der Autor. Schaue man sich etwa die überfüllten Züge an Pfingsten, Fronleichnam oder an den Wochenenden an, dann spiele der Preis offenbar eine größere Rolle, als viele glauben.

Kaum zu bestreiten sei inzwischen, dass die Menschen durchaus ein Interesse daran haben, mit dem ÖPNV zu fahren. „Andernfalls hätten sie sich nicht zu Tausenden in die vollen NRW-Züge gequetscht, sondern wären einfach mit dem Auto, dem Fahrrad oder halt gar nicht weggefahren“, deutet Giustolisi. Ob das Ticket allerdings ebenso gerne für die täglichen Wege genutzt werde – etwa zur Arbeit, in den Kindergarten oder in die Schule –, das gelte es noch abzuwarten.

Für Giustolisi steht außer Zweifel, dass das 9-Euro-Ticket der Verkehrswende gute Dienste leisten kann. „Am Ende könnte es unsere Straßen entlasten und den Ausstoß von C02 reduzieren“, hält er fest. Wenn dadurch auch die Nachfrage nach Kraftstoff für Autos sinke, reduziere sich durch die geringere Nachfrage auch der Benzinpreis. „Es wäre allen geholfen“, folgert der Autor.
 

Anmerkungen der Redaktion

Daniele Giustolisi ist leitender Redakteur beim Dortmunder Medien-Startup RUHR24. Neben seinem Studium der Germanistik und Romanistik an der Ruhr-Universität in Bochum hat Giustolisi als freier Journalist bei der WESTDEUTSCHEN ALLGEMEINEN ZEITUNG (WAZ) gearbeitet, der größten Regionalzeitung Deutschlands. Diese verließ er 2014, um ein Volontariat bei den RUHR NACHRICHTEN zu absolvieren. Kurz nach seinem Volontariat hat er zunächst als Online-Redakteur bei RUHR24 begonnen. Seit 2019 ist er dort leitender Redakteur.

RUHR24.DE ist eine Online-Publikation, auf der schwerpunktmäßig Nachrichten aus Nordrhein-Westfalen und Dortmund veröffentlicht werden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Sportberichterstattung über Schalke04, Borussia Dortmund und den VfL Bochum. RUHR24.DE wird vom Medien-Startup RUHR24 verwaltet, das neben RUHR24.DE auch mehrere Sport-Apps und eine Job-Plattform betreibt. RUHR24 ist ein Tochterunternehmen der Verlage Lensing Media und Rubens. Lensing Media zählt zu den größten Verlagshäusern in Nordrhein-Westfalen und verlegt unter anderem die RUHR NACHRICHTEN und die WESTFÄLISCHEN NACHRICHTEN. Laut Similarweb hatte RUHR24.DE im Mai 2022 rund 4 Millionen Aufrufe zu verzeichnen.

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„Tickets bezahlen oder gratis fahren - welchem Modell gehört die Zukunft?“

Der Spiegel, 25.02.2020 - Lena Frommeyer, Emil Nefzger

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Sollte Deutschland dem Vorbild Luxemburgs folgen und den öffentlichen Nahverkehr kostenlos anbieten? Dieser Frage sind die Journalist:innen Lena Frommeyer und Emil Nefzger in einem Pro und Contra-Format des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL nachgegangen.

Lena Frommeyer sieht im kostenlosen Nahverkehr eine „auf vielen Ebenen hervorragende Idee“ – vor allem aber einen Dienst der Solidarität: „Sprechen wir von einem kostenfreien ÖPNV, dann sprechen wir davon, soziale Mobilität zu ermöglichen.“ Durch die steigenden Wohnungs- und ÖPNV-Preise seien immer mehr Menschen abgehängt. Mit einem kostenlosen Nahverkehr sende der Staat in Zeiten wie diesen ein starkes Signal: nachhaltige Mobilität für alle.

In der estnischen Hauptstadt Tallinn müsse die einheimische Bevölkerung schon seit dem Jahr 2013 kein Ticket mehr kaufen. Die soziale Durchmischung in Bussen und Bahnen sei dort seitdem deutlich höher, stellt Frommeyer mit Verweis auf eine Analyse des Verkehrswissenschaftlers Oded Cats von der TU Delft heraus. „Jedes Land, dass [sic!] es sich leisten kann, sollte über einen kostenlosen Nahverkehr (…) nachdenken“, plädiert Frommeyer. Denn: „Wer gratis fährt, fährt solidarisch.“

Ihr Kollege Emil Nefzger zeigt sich von Frommeyers Argumentation dagegen wenig überzeugt. Denn das übergeordnete Ziel werde durch einen kostenlosen ÖPNV diversen Studien zufolge nicht erreicht: nämlich mehr Menschen dazu zu bringen, ihre Autos stehenzulassen. Das sei auch im estnischen Tallinn zu beobachten: Dort habe der kostenfreie Nahverkehr zwar für 14 Prozent mehr Fahrgäste gesorgt – „der Anteil der Autofahrer unter ihnen war jedoch marginal“, räumt Nefzger ein.

Zudem hält Nefzger einen kostenlosen ÖPNV schlichtweg für zu teuer: Sanierungsstau, Streckenausbau und wegbrechende Einnahmen würden den Staat seinen Berechnungen nach nämlich rund 36 Milliarden Euro kosten – eine Summe, die er nicht aufbringen wird, meint Nefzger. Sein Fazit: „Der ohnehin an seine Grenzen stoßende Nahverkehr würde als Gratisvariante deshalb nur unattraktiver.“

Anmerkungen der Redaktion

Lena Frommeyer ist Journalistin und Dozentin für Online-Journalismus am Mediencampus der HAW Hamburg. Sie ist Redakteurin im Mobilitäts-Ressort beim SPIEGEL und schreibt dort über den Verkehr der Zukunft, Fahrradkultur, öffentlichen Nahverkehr und Verkehrspolitik. Davor hat sie unter anderem für das Stadtmagazin HAMBURG SZENE und die ZEIT gearbeitet.

Emil Nefzger arbeitet als Redakteur für die Tageszeitung ALLGÄUER ZEITUNG. Der studierte Geschichts- und Kommunikationswissenschaftler absolvierte einen Master an der Deutschen Journalistenschule. Seine journalistische Karriere begann er 2016 als Praktikant beim MÜNCHNER MERKUR. Nach einem weiteren Praktikum beim BAYERISCHEN RUNDFUNK wurde er 2018 als Redakteur beim SPIEGEL eingestellt. Diesen verließ er 2021 für die ALLGÄUGER ZEITUNG. Nach eigenen Angaben auf seinem Twitterprofil ist er „Mobilitätsfanatiker“.

DER SPIEGEL ist ein deutsches Nachrichtenmagazin, das 1947 von Rudolf Augstein gegründet worden und zuletzt (1/22) in einer Auflage von knapp 723.000 Exemplaren erschienen ist. DER SPIEGEL zählt zu den deutschsprachigen Leitmedien: Er prägt die gesellschaftliche Debatte und Öffentlichkeit. In den Jahren 2019 und 2020 war das Magazin das meistzitierte Medium in Deutschland. Eine besondere Rolle im Magazin nimmt bis heute der investigative Journalismus ein. 1963 führten eine solche Recherche und die sogenannte SPIEGEL-Affäre dazu, dass der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß sein Amt räumen musste. DER SPIEGEL wird traditionell als eher linksliberales Medium gesehen, auch in Abgrenzung zu den anderen großen deutschen Nachrichtenmagazinen, dem FOCUS und dem STERN. Bereits Gründer Rudolf Augstein verortete sein Magazin „im Zweifel links“. 1994 wurde der dem SPIEGEL zugehörige, aber redaktionell unabhängige Online-Nachrichtendienst SPIEGEL ONLINE gegründet. Seit dem 8. Januar 2020 heißt auch das Online-Portal DER SPIEGEL, nachdem die Redaktionen der beiden Medien 2019 zusammengelegt wurden. Dennoch ist das Online-Portal immer noch rechtlich und wirtschaftlich unabhängig, da es von einer Tochtergesellschaft betrieben wird. DER SPIEGEL (online) zählt zu den fünf meistbesuchten Nachrichten-Webseiten in Deutschland. 2018 wurde bekannt, dass der langjährige Mitarbeiter Claas Relotius wesentliche Inhalte von (teils preisgekrönten) SPIEGEL-Reportagen erfunden hatte. Hiernach reichte Relotius seine Kündigung ein. Das Blatt sprach von „einem Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des SPIEGEL“.